
Das Krankenhaus der Zukunft reißt die alten Mauern ein, in der Architektur – aber vor allem in der Verwaltung, in den Köpfen der Akteure und in der Beziehungsgestaltung mit den Patient:innen. Digitale Technologien machen die Klinik ohne Mauern und mit mehr Patient:innen-Souveränität möglich.
Wie sieht das Krankenhaus der Zukunft aus? Ist es vorstellbar, dass wir schon bald auf Konsultation bei einem Arzt vor Ort in der Praxis komplett verzichten können. Aber wollen wir das überhaupt? Oder ist das schon wieder ein solcher Eingriff ins Gesundheitssystem, bei dem statt einer breitflächigen Versorgung für alle neue Märkte für private Akteure herausgeschlagen werden sollen?
Das Krankenhaus des 20. Jahrhunderts, so lässt sich vereinfacht sagen, wurde aus einem (nicht nur architektonisch) schwer verdaulichen Patchwork aus Erlöserwartungen, sozialen und technologischen Anforderungen, Sparsamkeitserwägungen, rechtlichen Bestimmungen und sich wandelnden Patient:innen-Bedürfnissen erbaut. Das architektonische Ergebnis war nicht selten ein gesichtsloser Multifunktionsbau, der eher abstößt, als dass er willkommen heißt, eher krank macht, als dass er der Heilung und dem Wohlergehen dient.
In 3 Kategorien sollten wir die Krankenhäuser künftig einteilen:
1. Unfall- und Akutkliniken sollten verkehrstechnisch günstig liegen, mit Operationssälen ausgestattet sein und digital über gute Vernetzungswege für schnelle Entscheidungen verfügen.
2. „Entschleunigtere“ Krankenhäuser bekommen die Aufgabe, Behandlung, Therapie und Diagnostik in der Regel für eine nicht-stationäre Behandlung zu organisieren; die Bettenzahl ist begrenzt, Mitarbeiter und Organisation sind auf kürzere Aufenthaltszeiten eingerichtet.
3. Spezialkliniken, die für längere Aufenthalte der Patient:innen vorgesehen sind, werden künftig deutlich stärker technologisch aufgerüstet mit Automatisierung, Künstlicher Intelligenz und Robotik daherkommen. In einem solchen „Gesundheitshaus“ wird auch die Integration von Pflege und Robotik, lange ein Tabuthema, stattfinden. Dabei werden Medizin und Pflege in der Zukunft den menschlichen Kontakt nicht abschaffen, Künstliche Intelligenz und Automatisierung ergänzen und erleichtern die Pflege.
Ein Krankenhaus für die Minimierung von Krankheitsfällen
Digitalisierungsmaßnahmen müssen in den kommenden Jahren den Weg aus der Symptom- in die Vorbeugemedizin ebnen. Babylon Health , ein britisches Startup, das unter Einbeziehung von Künstlicher Intelligenz am medizinischen Fortschritt arbeitet, lehnt sich weit aus dem Fenster und geht davon aus, dass in spätestens 20 Jahren 85 Prozent aller medizinischen Konsultationen virtuell stattfinden werden. Keine Frage, dass am Horizont eines solchen Szenarios die Utopie einer Gesundheitsversorgung Gestalt annimmt, die den Krankheitsfall systematisch ausschließt.
Nach wie vor sollte dabei der Bereich der schweren und chronischen Erkrankungen ausgeklammert bleiben. Doch auch hier zeichnen sich seit Beginn der 2010er Jahre technologische Fortschritte ab, die gerade bei chronischen Erkrankungen interessante dezentrale Versorgungswege eröffnen.
Privatisierung war unausgegoren
Offensichtlich hat die Privatisierung des Gesundheitswesens und speziell von Krankenhäusern (in den 1990er und 2000er Jahren die Prestigeobjekte für vorgebliche Leistungsmaximierung durch Marktorientierung) zu mangelhaften Lösungen geführt. Jetzt, während für 2023 mit einer ernsthaften Insolvenzwelle zu rechnen ist, kommt das Nachdenken über die Zukunft der Gesundheitsversorgung - vielleicht gerade noch rechtzeitig – endlich an den Grundlagen der Krankenhauskrise an. Zunächst fehlen ganz einfach exakte Definitionen dafür, was ein Krankenhaus an einem bestimmten Ort überhaupt leisten soll.
Cleveland Clinic: Die Vision des Krankenhauses ohne (Daten-)Mauern
Die Cleveland Clinic, die im vergangenen Jahr ihr hundertjähriges Bestehen feierte, ist ein US-amerikanisches Nonprofit-Krankenhaus, das die Pflege der Kranken mit modernster Forschung und medizinischer Lehre verbindet. Das Krankenhaus, das mittlerweile auch Dependancen in London und Abu Dhabi unterhält, sticht weltweit heraus als forschende Klinik, die immer wieder an wichtigen Durchbrüchen in der Technologie- und Medikamentenentwicklung beteiligt ist. Vieles, was in Cleveland besser als in allen anderen Krankenhäusern der Welt funktioniert, lässt sich auf die frühe Adaption von BigData-Anwendungen, die Nutzung von digitalen Plattformen und Robotik-Innovationen zurückführen.
Schon früh wurde in den Cleveland Clinics nach dem Grundsatz verfahren, mithilfe des Megatrends Digitalisierung an einem Krankenhaus ohne (Daten-)Mauern zu arbeiten. Es wird darauf hingearbeitet, immer mehr medizinische Leistungen in den ambulanten Sektor zu delegieren. In den USA ist der Umsatzanteil in der ambulanten Versorgung von rund einem Drittel im Jahr 1995 auf 47 Prozent im Jahr 2016 angestiegen. Darüber hinaus haben es die Cleveland Clinics früh verstanden, neue Ansätze wie die Nahversorgung vor Ort und Versorgung zuhause in das eigene Konzept zu integrieren.
Übergreifendes Konzept und zentraler Erfolgsfaktor ist jedoch der Mut der Cleveland Clinic, in sektorenübergreifenden Netzwerken zu arbeiten und dabei die Patient:innen in den Mittelpunkt zu stellen. Mit Programmen wie „Lifestyle 180“ hat sich das „disruptive Krankenhaus“ im Grunde einer uralten Devise verschrieben: Vorbeugen ist besser als Leiden. Das Programm begleitet an Diabetes Leidende vor Ort in Cleveland und anderen Klinikstandorten mit Unterstützung wie Yoga und Kochkursen. Von diesem Programm profitieren nicht nur die chronisch Kranken, sondern auch die örtliche Wirtschaft, die Dienstleistungen, Lebensmittel, Technologie und vieles andere mehr beisteuert.
Was seit Längerem schon das Qualitätssiegel „Cleveland Clinic Integrated Care“ trägt, zeichnet sich außerdem dadurch aus, dass nachhaltiger gewirtschaftet wird. Alle Experten, die an dem Programm beteiligt sind, werden stets über die Kostenseite der Behandlungen und Therapien informiert. Im Zuge dessen fanden Cleveland-Ärzte heraus, dass es in der medizinischen Versorgung zum Beispiel deutlich günstiger ist, Wunden mit Nähten aus Seide statt mit Metallklammern zu versorgen. Während die Klammern 400 US-Dollar kosteten, taten Seidennähte ihren Dienst für lumpige fünf US-Dollar. Die Nutzung der Metallklammern wurde schnell von 91 Prozent auf zehn Prozent der Anwendungsfälle reduziert. Es mag banal klingen, doch diese neu organisierte Informations- und Nachhaltigkeitspolitik am Klinikum führte dazu, dass zwischen 1999 und 2014 die Produktivität und das Jobwachstum an der Cleveland Clinic von jährlich einem Prozent auf sieben Prozent gesteigert werden konnte. „Cleveland Clinic Innovation“, der Investmentarm der Klinik, hat in den letzten Jahren die Gründung von 70 (nichtmedizinischen) Startup-Unternehmen gefördert, die in Cleveland und Umgebung Arbeitsplätze und Wohlstand schaffen.
Mehr dazu in unserer Studie "Megatrend Gesundheit", 2024.