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9 Takeaways der US-Wahl, die auch für die Bundestagswahl wichtig werden

Was bleibt vom Green Deal übrig?
Was bleibt vom Green Deal übrig?

Anscheinend muss man Trump nicht mögen, um ihn zu wählen. Jedenfalls sind die US-Wahlen geprägt von Wählerinnen und Wählern, die einem speziellen Vernunftmodell folgen: der moralbefreiten Maximierung der eigenen Zwecke. Am Horizont entsteht das Bild einer atomisierten Kunden-Gesellschaft, in der Gemeinsinn und Teilhabe keine Rolle mehr spielen 

 

1. Die Frauen und die Schwarzen haben die Wahl für die Demokraten NICHT gewonnen; Schwarze und Latinos möchten individuelle Entscheidungen treffen und nicht in Kollektive eingeteilt werden...Die Minderheiten bzw. die von Migration geprägten US-Communitys – als hätte man es geahnt - haben keine Lust mehr, sich von der Politik als Sorgenkinder typisieren und der Demokraten-Wahlbasis subsumieren zu lassen. Deswegen wählten viele von ihnen fast mit Häme die Partei des Mauerbauers und Migrantenhassers Donald Trump. In Zeiten von SocialMedia sind Wahlen offenbar keine „staatsbürgerliche Pflicht“ mehr, es wird nicht mehr nur aus staatsbürgerlicher Verantwortung gewählt, sondern weil man ein Statement abgeben möchte, mit dem man sich anschließend auf Instagram abfeiern lassen kann. Dieser Trend wird auch bei der Bundestagswahl relevant werden. Dazu mehr unter 8. und 9. 

 

2. Die Wählerinnen und Wähler straften die Demokraten für eine katastrophale Coronapolitik (für die in erster Linie Trump verantwortlich war) und explodierende Lebensmittelpreise ab - auf der Suche nach Wandel und Besserung der Lage...Jetzt, 2024, fand die eigentliche Corona-Wahl statt, denn erst jetzt sind die ökonomischen Folgen spürbar: Lieferkettenprobleme, Produktionseinbrüche und Inflation. Das Wahldesaster fand in diesem makroökonomischen Szenario statt. Und darin spielte Bidens Green Deal, das ist tragisch, absolut keine Rolle, weil die Wirkungen des Inflation Reduction Act (IRA) zum Zeitpunkt der Wahl noch wenig spürbar waren. Das ist auch insofern tragisch, als Biden damit als größter Erneuerer neben Lyndon B. Johnson (Great Society) und Franklin D. Roosevelt (New Deal) in die USA-Geschichte eingehen, und zwar als derjenige, dessen weitreichende Transformationsmaßnahmen kaum wahrgenommen wurden. Es wird sich jetzt zeigen, was von der grünen Transformation (insgesamt 325 Cleantech-Projekte in 41 Bundesstaaten) übrigbleibt. 

 

80 Prozent der gigantisch subventionierten Dekarbonisierungsprojekte sind in Republikanerhochburgen angesiedelt. Dort drängen Unternehmerinnen und Unternehmer, Republikaner:innen und Demokrat:innen schon jetzt auf die Weiterführung des IRA. Ob Trump noch einmal Kahlschlagpolitik beim Klimaschutz betreiben wird, lässt sich momentan nicht beurteilen. Optimistische Einschätzungen (s. Abbildung) gehen davon aus, dass Trumps Wirtschaftspolitik den IRA stillschweigend fortführen wird, da eine Rückkehr in die fossile Steinzeit selbst von Ölkonzernen abgelehnt wird. Auch in der Bundestagswahl wird der Rückbau des Klimaschutzes, der längst zu einer Wachstumsindustrie geworden ist, günstige Energie produziert und Arbeitsplätze schafft, ein Profilierungsthema der Opposition sein.

 

3. Der Gender-Gap hat sich als Irrweg herausgestellt...Man muss fast von einer Kontaktphobie sprechen, will man erklären, wie die Demokraten an den Männern, speziell an den jungen Männern, vorbeiargumentiert haben. In letzter Minute begannen sie, den Männern zu sagen: „Wenn euch die Frauen in eurem Leben wichtig sind, solltet ihr für uns stimmen. Oder wählt ihr uns vielleicht nicht, weil ihr insgeheim sexistisch seid?“ Der Versuch, Männer durch Beschämung und Schuldgefühle dazu zu bringen, die Demokraten zu wählen, war spektakulär erfolglos. Der US-Männerforscher Richard Reeves bringt das Dilemma folgendermaßen auf den Punkt: „What men heard from the right was: you’ve got problems, we don’t have solutions. What they heard from the left is: you don’t have problems, you are the problem“ - ihr habt keine Probleme zu haben - ihr SEID das Problem. Im Bundestagswahlkampf muss die Radikalisierung der Männer unter anderen Vorzeichen adressiert werden.

 

4. Die Regierungen in den meisten OECD-Ländern wurden abgestraft...Die Trump-2-Wahl war auch insofern die eigentliche Corona-Wahl, als sie sich, wie von uns im Vorfeld vermutet, in die Bestrafungsorgie der zur Corona-Zeit regierenden Parteien einreihte. Globaler Gegenwind hat weltweit seit 2022 zu 17 Regierungswechseln geführt: Deutschland, Frankreich, Südkorea, Italien, Slowenien, Schweden, Polen, Australien, Finnland, Slowakei, Schweden, Neuseeland, Portugal, Großbritannien, Österreich, Litauen, Japan. 

 

5. Wahlforschung liefert kaum noch verwertbare Erkenntnisse...Erneut hat die Wahlforschung mit krassen Fehleinschätzungen („verdammt eng“) mit zum Desaster für Demokratie und Demokraten beigetragen. Offenbar erreichen die Befragungen die Stimmungslagen der Wählerinnen und Wähler überhaupt nicht (oder die Umfrageinstitute werden massenhaft belogen). Das war schon 2016 der Fall, das war 2022 bei den Midterms der Fall, das ist jetzt wieder passiert.

 

6. Was viele Wählerinnen und Wähler als Wahlkampf wahrnehmen, ist ein trübes Gemisch aus Fakenews, Gossip, Affektpolitik und Demagogie...Es hat sich noch einmal gezeigt, dass die unzufriedenen, krisengeplagten Wählerinnen und Wähler ihrer Ungeduld und Unzufriedenheit dadurch Ausdruck verliehen, dass publizistische Institutionen wie das Kabelfernsehen, New York Times und Washington Post, aber auch das TV-Duell kaum noch wahrgenommen werden. Es siegte die individualisierte Kommunikation über Podcasts (Joe Rogan), SocialMedia und Messenger. Die Menschen vertrauen den publizistischen Institutionen nicht mehr, sie vertrauen der individuellen Ansprache des affektgetriebenen Narrowcastings. Das heißt natürlich auch: sie nehmen das Bombardement mit Fake News in Kauf in ihrem Trotz gegen eine eingebildete Obrigkeit/“Elite“. Bei der kommenden Bundestagswahl wird es entscheidend wichtig sein, insbesondere die jüngeren Wählerinnen und Wähler bei ihren Mediennutzungsgewohnheiten abzuholen.  

 

7. Das Ende der Gewissheiten: Auch der Stadt-Land-Gegensatz liefert keine verlässliche Wählerbasis mehr für die Demokraten...Es hat auch ein Urban Shift stattgefunden: Ausnahmslos alle US-Metropolen fielen ins rechte Lager. Das lässt sich selbst in New York bis auf die Mikroebene nachverfolgen: Bronx +22%, Brooklyn +12%, Queens +21%, Manhattan +9% für Trump. Es ging nicht um Stadt vs. Land oder Links vs. Rechts, es ging um funktioniert/dysfunktional. Dysfunktionalität ist das Gefühl, das sich – auch - in den US-Städten durchgesetzt hat. Trump hat dieses Doomsaying immer wieder als Erklärung angeboten, die SocialMedia haben es multipliziert. Die Pandemie (und Trumps Unfähigkeit mit der Pandemie umzugehen) hat landesweit das Grundgefühl der Dysfunktionalität etabliert, vergangene Woche hat Trump damit die Wahl gewonnen.

 

8. Die Wählerinnen und Wähler sind "rational fools"...Sie entscheiden auf der politischen Ebene – wie im Supermarkt - streng nach dem Grundsatz der Maximierung ihres Eigeninteresses. Der Staatsbürger tritt in der Wahlkabine nicht als demokratischer Souverän auf, sondern als „tyrannischer Konsument“ von individuellen Vorteilen und Rabattversprechen (ein bisschen weniger Demokratie, dafür drei Urlaube pro Jahr?). Eine für die kommende Bundestagswahl wichtige Erkenntnis. Wähler:innen wählen wie im Supermarkt, als rational fools https://www.jstor.org/stable/2264946, sie erteilen der Partei den Zuschlag, die ihnen Sicherheit – Maslowsche Pyramide – bei der Befriedigung ihrer basalen Bedürfnisse (Essen, Einkommen, Dach über dem Kopf) verspricht.

 

9. Die Demokratie liegt als Verhandlungsmasse auf dem Roulette-Tisch... Das führte auch zu dem paradoxalen Wahlverhalten, wie es bei vielen schwarzen und Latinowählern beobachtet wurde. Sie wählten Trump in der vagen Zuversicht, dass sie als halbwegs anerkannte Bürgerinnen und Bürger nicht aus der US-Gesellschaft herausgeworfen werden. Diese Wette ist amoralisch und verantwortungslos, sie packt die Aussicht auf Demokratie, Klimaschutz und eine gute Zukunft für die folgenden Generationen auf den politischen Roullettetisch und lässt die Kugel kreisen. Es hat den Anschein, als würden sich die Wählerinnen und Wähler in der Pose des Börsenzockers gefallen. 

 

Demokratie und Zukunft verkommen dabei zur politischen Verhandlungsmasse. Liefert die Trump-Regierung nicht, kann sie bei der nächsten Wahl ja wieder abgewählt werden (sollte es dann noch freie Wahlen geben). Im politischen Casino wird mit der Demokratie gezockt, Moral und Verantwortung spielen keine Rolle mehr. Der homo oeconomicus hat die Wahl gewonnen und verfolgt ausschließlich egoistische Interessen. „There is no such thing as society“, wie es Maggie Thatcher schon Ende der 1970er Jahre, am Beginn der neoliberalen Ära, predigte. Der hyperindividualisierte US-Wähler hat verstanden. 

 

Ich denke, das erklärt auch vieles im Wahlverhalten hierzulande. Wir haben es zu tun mit einem paradoxalen, in sich bis zum Zerspringen widersprüchlichen Mindset: Man muss Trump oder die AfD nicht mögen, um sie zu wählen. Immer mehr Wählerinnen und Wähler gefallen sich in der Rolle des rational fools: Der Kunde ist König, er/sie üben Macht aus, strafen ab – im Supermarkt wie in der Politik. Handlungsleitend für die Wahlentscheidung sind weder eine bessere Zukunft noch weitergehende moralische Verpflichtungen (Arche-Noah-Prinzip). Für viele geht es ausschließlich um die Maximierung des egoistischen Nutzens. 

 

Auf Marktgläubigkeit eingeschworen, gerät Politik immer mehr zum DEAL.