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VW-Krise: Unsere Industriekultur wird sich radikal verändern. 5 Trends

Die Autoindustrie ist das Rückgrat der deutschen Wirtschaft – diese Floskel kann keiner mehr hören. Sollte das auch nur annähernd der Fall sein, warum haben die Autobauer nicht längst den nächsten Schritt in die Zukunft getan? Tatsächlich könnte das Versagen vor der elektromobilen Transformation zu einem dramatischen Wandel in unserer Industriekultur führen.

 

Laut einer Studie des Instituts für die deutsche Wirtschaft (IW) aus dem Jahr 2020 macht die weltweite Nachfrage nach deutschen Autos mehr als 16 Prozent der Wertschöpfung der deutschen Metall- und Kunststoffhersteller aus. Mehr als die Hälfte der Bruttowertschöpfung im europäischen Autobau wird in Deutschland erzielt, meilenweit vor Frankreich, das mit neun Prozent an zweiter Stelle liegt. Autos machen rund 16 Prozent der deutschen Warenexporte aus. Und obwohl die wirtschaftliche Bedeutung der deutschen Autoindustrie 2017 bei 4,5 Prozent der Bruttowertschöpfung des Landes ihren Höhepunkt erreichte, lag der Anteil auch im Jahr 2020, dem letzten Jahr, für das Daten verfügbar sind, immer noch bei 3,8 %.  

 

1. Zaghaft, unentschlossen, VW...Die Krise bei Volkswagen (VW) zeigt, mit welcher Verantwortungslosigkeit seit Jahren die unvermeidliche Transformation hin zur Elektrifizierung verweigert. Was auf Nachrichtenebene häufig als Absatz- und Preisproblem bei den Elektrofahrzeugen verkauft wird, hat seine tieferen Ursachen in der Digitalisierung, beziehungsweise der verschleppten Digitalisierung bei VW. Die technologische Transformation vom Verbrenner zum Elektromotor entpuppt sich komplexer Kulturwandel, auch das wird seit Jahren bereits – nicht zuletzt von den Hausberatern in Wolfsburg – angekündigt, aber nicht angepackt. Volkswagen reagiert, jetzt wieder halbherzig. Im Juni wurde die Beteiligung an dem US-Elektrofahrzeugbauer Rivian (SUVs, Pickups, Nutzfahrzeuge) bekanntgegeben. VW erwirbt keine Mehrheitsanteile, möchte durch den Zukauf jedoch schnellstmöglich seine Softwareprobleme beheben, welche sich in der Konzerntochter Cariad (Liefer- und Entwicklungsverzögerungen) aufgestaut hatten. Durch die Investition bei Rivian (rund fünf Milliarden US-Dollar in den kommenden Jahren) sollen leistungsfähigere Software-Fundamente für den europäischen und nordamerikanischen Markt gelegt werden. 

 

2. Parallelaktion für den chinesischen Markt statt Kulturwandel...Für den chinesischen Markt zeichnet sich – vor allem aus geostrategischen Gründen - die Entwicklung einer zweiten Software-Infrastruktur ab, die bei Cariad und mithilfe von VWs China-Partner Xpeng realisiert werden soll. Wie Volkswagens anhaltende Probleme mit seiner Softwareeinheit zeigen, wird ein aus der Zeit gefallenes Herstellungssystem, das optimiert ist, um „teure mechanische Wunder zu produzieren, die wie ein Uhrwerk laufen“, so beschreibt es der „Economist“, zwangsläufig daran scheitern, sich in einer zunehmend digitalisierten Welt neu zu definieren. Der seit gut 15 Jahren ängstlich aufgeschobene Strukturwandel hätte von einem umfassenden Kulturwandel eingeleitet werden müssen. Mehr junge Deutsche hätten für Informatik und Nachhaltigkeitsmanagement statt für Maschinenbau interessiert werden müssen. Und Forscher hätten sich deutlich früher um die Entwicklung von Mobilitätsdiensten bemühen müssen, anstatt ein weiteres Autopatent anzumelden. 

 

3. Gerät mit VW auch die Mitbestimmungsordnung ins Wanken?...Keine Frage, dass der verschlafene digital-elektrische Kulturwandel nicht nur den Konzern selbst beschädigt. So könnte die VW-Krise zudem auch die Mitbestimmungsordnung hierzulande erschüttern. Bislang trug die Autoindustrie das hiesige Modell der Mitbestimmung, bei dem die Arbeitnehmer in den Unternehmensvorständen garantiert vertreten sind. Volkswagen ist auch hier das Paradebeispiel. Die mächtigen Betriebsräte der Autoindustrie bieten der IG Metall Zugang zu wichtigen Ressourcen, von Geld bis zu Informationen. Mitarbeitervertreter machen die Hälfte des 20-köpfigen VW-Aufsichtsrats des Unternehmens aus und erhalten regelmäßige Updates über die Situation des Unternehmens und die Möglichkeit, ein Veto gegen strategische Entscheidungen einzulegen. 

 

4. VW das Foxconn für Premiumfahrzeuge?...Seit zwei Jahrzehnten wird die Binse „Vom Automobil zu den mobilen Dienstleistungen“ auf Kongressen und in der Autopresse bemüht. Dass die Elektrifizierung der Antriebe unverzichtbar ist, wissen wir ebenfalls seit mehr als 15 Jahren. Die deutschen Autobauer haben den Hinweis auf den Strukturwandel selbstgerecht an sich abperlen lassen. Jetzt ist der Wandel da und es fehlen die Modelle. Die Konsequenzen könnten so aussehen: Große Lieferanten wie Bosch oder Continental werden mehr für ausländische Autohersteller wie Tesla arbeiten (in den frühen Tagen soll Bosch 80 Prozent zur Wertschöpfung von Tesla beigetragen haben). Kleinere Anbieter werden sich spezialisieren und Dienstleistungen erbringen, wie es viele mittelständische Unternehmen bisher getan haben. Und Deutschland könnte aufhören, billigere Autos zu produzieren und sich mehr darauf konzentrieren, kleinere Mengen von Luxusautos (mit höheren Margen) herzustellen. Fest steht, die deutsche Automobilindustrie muss endlich die Zeichen der Zeit erkennen und sein Geschäftsmodell erweitern. Möglicherweise wird sich Volkswagen dabei in den nächsten Jahren zu einem Vertragshersteller wandeln, der Elektrofahrzeuge für andere Marken zusammenschraubt, so wie Foxconn iPhones für Apple baut. 

 

5. Auto als Entertainment-Hub ist kein Alleinstellungsmerkmal...Die deutschen Autobauer müssen sich schnellstens davon verabschieden, ihre Strategien nur rund um das Auto zu entwerfen, wie es Andreas Boes von ISF München formuliert hat. Digitalisierung und „Software first“ heißt eben nicht, dass Autos künftig zu Daddelcenter oder Netflix-Kabinen mutieren. Wer das in der Autoindustrie noch immer für einen Trend hält, der hat die vergangenen zehn Jahre verpennt. Anstatt Autos immer komfortabler zu machen, damit die Menschen mehr Zeit in ihnen verbringen und zusätzliche Dienstleistungen erhalten können, sollten sich Autobauer auf etwas sehr Einfaches besinnen: die Fähigkeiten unserer Gesellschaft neu zu organisieren, nachhaltig von A nach B zu kommen.