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Im Land der hellblauen Zipfelmützenträger

shutterstock   Wollen wir als hellblaue Volks-Schlümpfe weiterleben?
shutterstock Wollen wir als hellblaue Volks-Schlümpfe weiterleben?

Während der Fußball-EM wird der deutsche Infrastruktur-Abfuck schmerzlich spürbar. Im Land der hellblauen Polit-Schlümpfe trauen sich Innovatoren kaum noch hervor. Dabei werden viele Weichen auf die Zukunft richtig gestellt.

 

Wie lange wollen wir noch nach der Pfeife der AfD tanzen? Offenbar ist es den Deutschen zur zweiten Natur geworden, Angst vor der Zukunft zu haben. Kaum ein Politiker traut sich mehr, klare Ansagen zu machen, man könnte ja den ach so sensiblen und belasteten Wähler irritieren. Und alle in der Politik springen hinterher, alle. Ich erinnere mich an den Wahlkampf 2021. Auch von der Grünen Annalena Baerbock kein Wort über die Notwendigkeit von Veränderungen (oder gar die Verheißung eines Anfangs). Und während die etablierte Politik in Visionslosigkeit erstarrt, lässt sich die Jugend von einem schmierigen Etikettenschwindler wie Maximilian Krah (einem völkischen Oberschlumpf) auf Tik Tok um den Finger wickeln. 

 

Im Sommer 2024 präsentiert sich Deutschland in der mentalen Verfassung einer Biedermeier-Republik, kujoniert von uniformen hellblauen Polit-Zwergen, die gerne - regiert von einem vormundschaftlichen, hellblauen Schlümpfe-Autoritarismus - unter sich bleiben möchten - wehleidig, neurotisch, saturiert. 

 

In solch einer monochromen AfD-Republik gelingt es selbst dem provinziellen Friedrich Merz, Wählerinnen und Wähler zu manipulieren. Merz spricht zum Volke (ob auf Marktplätzen oder bei „Lanz“) immer so, als würde er gerade dem Azubi eine Standpauke halten. Anders kann er offenbar nicht. Die deutschen Biedermeiers und -Müllers lassen sich das gefallen, denn sie plagt die Angst vor der Zukunft. 

 

Für Merz lief es blendend im vergangenen Jahr mit dem „Heizungs-Hammer“, so die kampagnenbegleitende Bild-Schlagzeile. Dienstbeflissen sprang das Verfassungsgericht bei, um - im Verbund mit der Springerpresse - den deutschen Michel („Hilfe, meine Ölheizung“) gegen Veränderungen zu mobilisieren. 

 

Vergangene Woche war Merz bei Enpal in Blankenfelde zu Besuch, einem aggressiv wachsenden Unternehmen für Wärmepumpen und Solar. Hier vollzog der Sauerländer eine für viele unerwartete Kehrtwende: „Wir als Union stehen voll und ganz hinter dieser Wärmewende“, so Merz. Selbst Anhänger der Christdemokraten wirkten irritiert, klangen ihnen doch noch Merz‘ populistischen Tiraden anlässlich des Heizungsgesetzes und klimaskeptische Andeutungen im Ohr. Zur Einordnung: Die CDU unterstützt den Green Deal der EU, das bestätigte nochmals der CDU-Vize Andreas Jung am Wahlabend vergangenen Sonntag. 

 

Merz hat nicht „plötzlich die Pumpe entdeckt“, wie die TAZ titelte, der Kanzleranwärter hielt es nur wieder einmal für opportun, die Linie des CDU-Grundsatzprogramms zu vertreten. Und ganz im Stile eines Machtpolitikers ging Merz bei Enpal in die Offensive und bemängelte, dass im vergangenen Jahr zu wenig Wärmepumpen verkauft worden seien. Opportunismus, Zynismus? Der Absatz von Wärmepumpen ist im ersten Quartal 2024 gegenüber dem Vorjahreszeitraum ja vor allem deshalb um 52 Prozent eingebrochen, weil Populismus + Springerpresse im Land der Schlümpfe funktioniert.  

 

So ganz nebenbei kündigte Merz mit seiner klimaskeptischen Episode im Jahr 2023 („wird schon schiefgehen“) den parlamentarischen Konsens auf, demzufolge Regierung und Opposition in Konkurrenz zueinander treten und um die Wählergunst werben, dafür jedoch nicht auf Lügen und populistische Manöver zurückgreifen und mit der Leugnung des Klimawandels und ausländerfeindlichen Stammtischparolen kokettieren.

 

Deutschland träumt: so beherzt wie die Schotten müsste man sein

 

Ach, könnt’ doch alles nur so bleiben, wie es ist. Die AfD bläut den Deutschen seit Jahren ein, dass die Zukunft nur übel ausgehen kann. Wir leiden am „Fear of falling“, die Angst, aus der Mittelschicht heraus zu kippen, dabei ging es uns in den letzten Jahren so gut wie noch nie. Zwischen 2010 und 2018 stieg das Medianeinkommen in Deutschland noch einmal deutlich von 1.847 Euro auf 2.042 Euro.

 

Zukunftsverzagtheit auch bei den Intellektuellen. Der Autor Gerhard Matzig (affektgesteuert, so macht man das ja jetzt) entlädt Stunden nach der Europawahl seinen Selbsthass - und hangelt sich an denselben Stereotypen entlang wie die kleingeistigen Schlümpfe von der AfD. Der schlecht gelaunte Feuilleton-Crooner hat das alles immer schon gewusst: „Lastenfahrrad, Guerilla-Gardening, Sojabratling“, alles vorbei jetzt! Diese grünen Spinner!

 

Kein Selbstvertrauen, nirgends. Kaum rückt das Verbrennerverbot näher, bekommen es die Weltmarken Daimler und BMW mit der Angst zu tun und sehnen sich nach ihren Dieselmotoren zurück. Fakt bleibt: Es gibt keinen nachhaltigen Flüssigbrennstoff, der Benzin oder Diesel ersetzen kann. 

 

Wo kommt die Superkraft her, die in der Ära der AfD-Regression die dicken Bretter bohrt und einfach einmal so etwas wie eine Fußball-Europameisterschafft wuppt? Selbst der „Postillon“ gerät angesichts der beherzten schottischen Fußballfans ins Schwärmen und deliriert darüber, dass die Schotten doch gleich auch Stuttgart 21 fertig bauen sollten („Betrunkene schottische Fans bauen Stuttgart 21 fertig“), hierzulande weiß niemand mehr, wie so etwas geht. 

 

Fußball-EM und der große Infrastruktur-Abfuck

 

Mit Fortschritt wird hierzulande, seit die hellblauen Volks-Schlümpfe die Lufthoheit über den Stammtischen erobert haben, nur noch gedroht. Patzig kündigt der amtierende Verkehrsminister die alsbaldige Umsetzung der Verkehrswende und Fahrverboten an (natürlich blieb es bei der Ankündigung). So weit sind wir gekommen. Es wird sarkastisch und verdruckst-autoritär mit Modernisierung und Veränderung gedroht.

 

Das Ausland registriert die Verzwergung Deutschlands mit Häme und Verwunderung. Wenn ein Sportreporter der „New York Times“, angereist, um über die Fußball-Europameisterschaft zu berichten, aus Verzweiflung anfängt, über das desolate deutsche Bahnsystem zu recherchieren, scheinen grundsätzliche Dinge nicht zu funktionieren. Der Sachstandsbericht Infrastrukturen der „New York Times“ lieferte in der ersten EM-Woche einen Offenbarungseid. Deutsche Effektivität? Nichts davon zu sehen. Drei Verkehrsminister der CSU, die man nur als benzintrunkene Knallchargen bezeichnen kann, haben die Bahn jahrzehntelang zerspart. Die Nachbarn, Schweizer, Österreicher, Italiener, alle mit zukunftsfähiger Schienenmobilität in Flugzeuggeschwindigkeit ausgestattet, lachen uns aus.  “It is not what the rest of Europe expected to find“, so die „New York Times“ lakonisch.

 

Gerne gesellt sich zur hiesigen Kleingeistigkeit die Neigung zur Selbstüberschätzung. Deutschland sei für zuwandernde Menschen zu attraktiv, glaubt der „Mann auf der Straße“ und fordert, die Sicherungssysteme, die ihn selbst stützen, zu entkernen. Ein neudeutsches Märchen ist es übrigens auch, dass Migrantinnen und Migranten Deutschland als das Paradies sehen. Mal ehrlich, wer möchte tatsächlich als junger begabter KI-Experte in einer Region leben, in der die Biodeutschen von einer homogenen Volksgemeinschaft träumen, wenn er in Kanada oder in den USA durchstarten könnte?

 

Beim Thema Willkommenskultur rangiert Deutschland weltweit auf den hinteren Plätzen. Marcel Fratzscher, Präsident des DIW, weist darauf hin, dass die Beschäftigungsquote bei den Männern, die zwischen 2014 und 2016 zugewandert sind, mit 86 Prozent höher liegt als die Erwerbsquote biodeutscher Männer. Ist ja auch klar: Wer hat während Corona bei Aldi und Rewe die Versorgung aufrechterhalten und die Pakete an die Haustür gebracht? Schon heute sind 1,8 Millionen Stellen vakant, in zehn Jahren könnte diese Zahl aufgrund des demografischen Wandels noch um fünf Millionen steigen. Wer wird dann unsere Züge steuern, die Alten pflegen?

 

Leute, die Welt nimmt uns nicht mehr ernst! Weil wir den Schlümpfen der AfD den Gefallen tun und über jedes reaktionäre Stöckchen springen und uns das Denken über eine bessere Zukunft verbieten lassen. Modernisierung, Herausforderungen, Verbesserungen...besser nicht den Wähler drangsalieren, das nutzt die AfD aus. 

 

Gegen AKI kommen wir nur als moralisch offenes Land an

 

Wie wäre es da mit ein wenig mehr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten? Unter den OECD-Staaten produzieren die USA, Großbritannien, Frankreich, Finnland, Schweden und Deutschland bereits nachhaltiges Wachstum, das durch immer weniger CO2-Ausstoß erzielt wird. Die Entkopplung von Wachstum und Naturverbrauch muss aber noch schneller und überall auf der Welt vonstatten gehen. 

 

Und irgendwie freiheitlich soll es auch bleiben. Aber Hilfe, unsere Demokratie zerbröselt. Da muss wieder das Verfassungsgericht ran, die befreien uns von der rechten Mischpoke. Ich schätze, das müssen wir schon selbst machen. Aus Russland kam das Gas, aus den USA die Verteidigung, nach China schickten wir den Müll und verkauften dicke Autos. Damit ist es jetzt vorbei. Wir sollten uns nicht vor sogenannten Transformationszumutungen fürchten, denn was uns wirklich ins Mittelalter zurückkatapultieren könnte, sind gesellschaftliche Stagnation und eine weitere Verzögerung der Transformation bei Energie, Landwirtschaft und Mobilität. Damit verlieren wir wirklich den Anschluss an USA und China, die den grünen Wandel entschlossen vorantreiben. Dann droht Deindustrialisierung. Die Transformation selbst wird 25 Millionen neue Jobs bringen. 

 

Dabei passieren an vielen Orten spannende Dinge in Deutschland, nur hat es den Anschein, als traute sich in der Republik der Zukunftsverzagten niemand mehr damit heraus. In Thüringen entwickelt die Baufirma Dyckerhoff beeindruckende Lösungen für den Klimakiller Zement. Gelingt der Plan der CO2-Abscheidung, könnten auf diese Weise 20 Prozent der CO2-Emissionen des Landes Thüringen eingespart werden

 

Solar und Wind entfalten ihr enormes Potenzial. Warum selbst seriöse Prognoseinstitute das Potenzial jahrzehntelang kleingeredet haben, bleibt eine offene Frage. Gut, dass gerade hierzulande Weltverbesserer (allen voran Hermann Scheer) an das disruptive Potenzial der Technologien gegen alle Widerstände der Kohlelobby geglaubt haben. Ohne die Innovationen der Umweltbewegungen in den 1970er und 1980er Jahren stünden wir heute dem Klimawandel machtlos gegenüber. Diese Innovationsoffenheit müssen wir fördern und kultivieren.

 

In Heidelberg wächst gerade ein neuer Stadtteil, der seine Materialien fast komplett aus recyceltem Bauschutt bezieht. Bis vor Kurzem war das noch unvorstellbar: Bei den Neubauten im ehemaligen Patrick-Henry-Village der US-Army erfüllt der Schutt die gleiche Funktion wie frischer Sand und Kies. Bauen produziert keinen Abfall mehr, alles wird zu Rohstoff. Heidelberg Materials (früher Heidelberg Cement) arbeitet in der „Circular-City“ gerade an einem Verfahren, wodurch der Abbruchbeton Kohlendioxid binden kann, was den CO2-Fußabdruck von zirkulären Gebäuden deutlich reduzieren könnte.   

 

Und während die AfD-Nachtwächter von einer homogenisiert-sterilen Volksgemeinschaft schwadronieren, kapert die Künstliche Intelligenz unsere Welt. Denn in den nächsten Jahren geht es nicht nur um den Klimawandel und den Fachkräftemangel. Die Künstliche Intelligenz kommt in Riesenschritten voran. Ob die nächste Stufe der Allgemeinen Künstlichen Intelligenz (AKI) in 15 bis 30 Jahren oder doch erst in hundert Jahren ihren Durchbruch erlebt, können die Expertinnen und Experten momentan noch nicht sagen. Doch das Szenario sieht in etwa so aus: „Irgendwann wären wir Menschen gegenüber den Computern in derselben Position wie die Schimpansen oder Ameisen uns gegenüber: Wir wären bestenfalls irrelevant und hätten keinen Einfluss mehr auf die Zukunft der Zivilisation“, so formuliert es der junge Oxford-Philosoph William MacAskill. Wir brauchen Diversität und Wertepluralität, um als Gesellschaft gestaltungsfähig zu bleiben. Nur Fortschritte bei Innovation, Werten und Wissen bewahren uns davor, dass die AKI in die Hände von totalitären Herrschern fällt.

 

Deshalb sollten wir Geschichten darüber erzählen, dass ein CO2-reduzierter Lebensstil keineswegs freudloser ist als unsere öl- und erdgas-getriebene Existenz zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Vielleicht denken wir auch einmal intensiv darüber nach, warum in Schweden der Lebensstandard mindestens genauso hoch ist wie in den USA, allerdings stößt Schweden eine Person durchschnittlich nur ein Viertel der Kohlendioxid-Emissionen aus.

 

Es ist eine kulturgeschichtliche Binsenweisheit, liebe AfD-Schlümpfe, dass Kulturen, die sich vermischen, überlebensfähiger und widerstandsfähiger sind, nicht zuletzt deshalb, weil Migration Bewährtes hinterfragt, Eigeninitiative fördert und – durch importiertes Wissen und alternative Werte – die Innovationsfähigkeit eines Gemeinwesens steigert. Kulturelle und wirtschaftliche Erstarrung, der Verlust von Vielfalt und Polyperspektivität macht uns verwundbarer. Tausendjährige Reiche (angefangen beim Gilgamesch-Mythos im zweiten Jahrtausend vor Christus) wollten viele bauen, sie sind alle an Dummheit und Inzucht zugrunde gegangen.