Die EU muss in den kommenden Monaten ein diffiziles Elektroauto-Dilemma auflösen. Neue Verkehrsinfrastrukturen sollten eher von der Pkw-Nutzung wegführen. Den Verkehrsminister kümmert das alles wenig. Schlechte Umfragewerte seiner Partei machen aus ihm immer mehr einen populistischen Desperado, der die letzte Kugel feuert.
Zweifel an verabschiedeten Maßnahmen zu säen, ist ein toxisches Gift für jede vernunftgeleitete Zukunftsplanung. Man muss sich klar machen, welchen Skandal es darstellt, dass ausgerechnet der Verkehrsminister der Bundesrepublik Deutschland, Volker Wissing, EU-weit berüchtigt ist für die Sabotage von Klimamaßnahmen, die von ihm selbst beschlossen wurden. Wissing tut dies nicht zuletzt aus Verzweiflung angesichts des drohenden Bedeutungsverlusts seiner Partei. Und die Europawahlen stehen ja vor der Tür.
Wissing droht mit Dekarbonisierung, während China bereits mit Dekarbonisierung verdient...In einer bizarren Mischung aus Zynismus und Selbstgefälligkeit hat sich der Verkehrsminister in der vergangenen Woche die Wählerinnen und Wähler vorgeknöpft: Wenn ihr Klimaschutz wollt, dann müsst ihr auch Sonntagsfahrverbote akzeptieren, so ließ sich seine Drohung interpretieren. Wissing kümmern die Vorgaben des Koalitionsvertrags schon längst nicht mehr. Ihm war es bei Nachfragen zum unvermittelt von ihm angedrohten Wochenendfahrverbot auch egal, dass die Sektorenziele von der Ampel-Koalition zwischenzeitlich längst kassiert wurden.
Wessen Interessen vertritt der Minister eigentlich? Warum läuft Herr W. schon wieder Amok? Vielleicht möchte der Minister mit seinem hilflosen und faktenbefreiten Verbotsgeraune die Autokraten aus China beeindrucken, die allmählich den europäischen Automarkt erobern. Angeführt von den neuen Elektroautoriesen BYD und MG wird die chinesische Automobilindustrie in diesem Jahr ein Viertel der Elektroautoneukäufe im EU-Raum einheimsen. Europäische Anbieter sind in der Klemme. Doch statt den Elektroauto-Hochlauf der Europäer durch konsistente Klimapolitik zu stützen, blockierte Wissing im vergangenen Frühjahr den Verbrennerausstieg bis 2035 und stellt ihn nach wie vor in Frage.
Die EU hat ein Elektroauto-Dilemma...Die Elektromobilität befindet sich in Europa an einem Scheidepunkt. Als Tesla im vergangenen Jahr ins „rote Meer“ des chinesischen Elektroautomarkts sprang und seine Preise senkte, brachen die Verkäufe dramatisch ein. Der preisgünstige Tesla 2, der im Jahr 2026 kommen soll, kommt vielleicht gar nicht. In 2024 ist die Marktkapitalisierung von Tesla um 30 Prozent auf 560 Milliarden US-Dollar abgestürzt. Europäische Hersteller setzt die Billigpreis-Offensive aus Fernost erheblich unter Druck. Wissings erratischer Auftritt verschärft das Elektroauto-Dilemma in der EU: Die Dekarbonisierung des Mobilitätssektors hinkt speziell in Deutschland, aber nicht nur hier, dramatisch hinterher. Da hilft es wenig, wenn Politik und Gesellschaft auf mehr Elektroauto-Produktion drängen - während die Verbraucher nicht zuletzt durch Wissings Blockadepolitik verunsichert werden.
Populistisches Zielgruppen-Marketing statt nachhaltige Verkehrspolitik...Wissings ebenso zynischer wie hilfloser Erpressungsversuch sendet irritierende Signale des Euroskeptizismus und des Rechtspopulismus aus dem Innenraum einer als Fortschrittskoalition angetretenen Regierung. In Brüssel gilt die FDP schon länger als eine Ansammlung von Politik-Desperados, die nichts mehr zu verlieren haben. Die Wählerinnen und Wähler interessiert das destruktive Lechzen der FDP nach Beachtung indes wenig. Aktuell liegen die Liberalen unter fünf Prozent. Und reaktionäre Wählerinnen und Wähler bevorzugen das Original und gehen zur AfD.
Es sind die abstürzenden Umfragewerte, die die FDP auf diese „destruktive Mission“ schicken, wie es Tarik Abou-Chadi, Europaexperte der Oxford-Universität beschreibt. Liberale Desperados, die mit der letzten Patrone des Rechtspopulismus Tatsachen verdrehen (Fahrverbote sind absurd, Tempo 130 wäre sofort und quasi kostenlos umsetzbar) und sich in Züchtigungsphantasien gegenüber der Bevölkerung ergehen. Den anvisierten (aber wahrscheinlich nur noch eingebildeten) Stammwähler:innen der FDP (Selbstständige, Unternehmen oder vielleicht die Mikrozielgruppe der Autofreund:innen) werden Geschenke gemacht (verzögertes Verbrenner-Aus, Schuldenbremse), die sie gar nicht haben wollen.
Fakt ist: Der bundesdeutsche Verkehrssektor ist bislang meilenweit vom Dekarbonisierungspfad entfernt. Wenn das Wissing-Ministerium nicht zeitnah wirksame Maßnahmen zur CO2-Reduzierung des Verkehrs präsentiert, wird Deutschland seine Klimaziele 2030 und 2045 verfehlen.
Es braucht neue Ideen für unsere mobilen Lebensstile...Die Mobilitätswende erfordert vor allem auch ein Umdenken in der Gesellschaft und bei den Unternehmen. Wir müssen unsere mobilen Lebensstile neu entwerfen.
49 Millionen Autos sind momentan auf Deutschlands Straßen unterwegs. 1960, mitten im kohlenstofftrunkenen Wirtschaftswunder, waren es 4,4 Millionen. Einen automobilen Aufbruch wie in den 60er und 70er Jahren wird es nicht mehr geben, das ist die nackte Wahrheit, mit der sich die deutsche Industrie einfach nicht anfreunden möchte. Nach wie vor herrschen in der Branche Verdrängung, Gesundbeten und kognitive Dissonanz vor.
Ich habe selbst mehrfach die Erfahrung gemacht, als Referent bei Veranstaltungen deutscher Automobilkonzerne mit Zustimmung und Schulterklopfen seitens der Konzernverantwortlichen und seiner Chefberater bedacht zu werden. Elektrifizierung des Verkehrs, autonomes Fahren als Teil des ÖPNVs und vernetzte Mobilitätskonzepte, das sei selbstredend der Plan für die Zukunft. Dann verlässt man die Veranstaltung, ein Konzernmitarbeiter, mit dem man zum Bahnhof fährt, schwärmt von der Erfolgsgeschichte des Turbodiesels und zieht „diese ganze Dekarbonisierungsdebatte“ in Zweifel. Es drängt sich der Eindruck auf: Im Stile implodierender Großreiche werden rhetorische böhmische Dörfer (die Mobilitätswende) errichtet, hinter deren Fassaden sich die Branche trifft - um die Augen gegenüber der Realität zu verschließen und für den Diesel zu beten.
Paris zeigt: Neue Infrastrukturen prägen neue Lebensstile...Dabei liegen die Lösungen auf der Hand. Weniger Besitz von individueller Automobilität ist möglich. Viele Städte und Kommunen – auch hierzulande - haben verstanden, dass der deutsche Mythos Pkw durch den Bau neuer kluger Infrastrukturen ersetzt werden kann.
In Frankreich gibt es keinen Pkw-Mythos wie hierzulande. Da lässt sich leichter über zukünftige Mobilitätswelten nachdenken. Eine aktuelle Studie zur Mobilitätsrevolution in der Weltstadt Paris untermauert, dass Pkw-Verzicht kein Hexenwerk ist. Die Forschenden des Pariser Stadtplanungsinstituts (IPR) haben von Oktober 2022 bis April 2023 die Bewegungen von 3.337 Einwohnern der Region Paris im Alter von 16 bis 80 Jahren nachverfolgt und die Daten ausgewertet. Der Analyse zufolge legen die Hauptstadtbewohner mittlerweile die meisten Wege zu Fuß zurück (53,5 %). Auf Platz zwei kommen die öffentlichen Verkehrsmittel mit 30 Prozent. 11,2 Prozent aller Wege entfallen auf das Fahrrad. Die eigentliche Sensation: Laut den Daten werden nur noch 4,3 Prozent aller Wege per Auto zurückgelegt.
Moderne Infrastrukturen bahnen verlässliche Wege in die Zukunft. Der beschleunigten Ladesäulenausbaus ist eine erste Priorität, um der Verbraucherunsicherheit zu begegnen und das EU-Elektroauto-Dilemma aufzulösen. Die momentan erwogenen EU-Zölle auf chinesische Elektrofahrzeuge könnten dagegen zu weiteren Absatzeinbrüchen bei den Elektroautos führen.
Brisanterweise liegt auch der Hebel für einen schnellen Ausbau zukunftsfähiger Mobilitätsinfrastrukturen - Sie ahnen es schon - in Volker Wissings Verkehrsministerium.