Nahrungsmittelproduktion, das hieß noch vor Corona: schonungslose Optimierung einer globalen Vertriebsmaschinerie, um für die weltweit operierenden Großerzeuger interessante Gewinnmargen zu liefern. Seit den Engpässen der Pandemie ist einer breiten Öffentlichkeit bekannt, dass das System der Nahrungsmittelerzeugung dringend renovierungsbedürftig ist, zumal der Klimawandel speziell von den Landwirten weitere erhebliche Anpassungen fordert. Erstaunlicherweise geht die hochemotional geführte Diskussion um den „Bauernaufstand“ komplett an dieser Fragestellung vorbei. Warum ist das so?
Ich möchte zwei Punkte hervorheben, die meines Erachtens bei dem „Bauernaufstand“ zu Beginn des Jahres 2024 tragende Rollen spielen: 1. Die „rechtspopulistische Disruption“ droht die politische Mitte neu zu strukturieren. 2. Wir brauchen schnellstens gute Ideen für den Umgang mit Veränderung in unserer Gesellschaft.
1.
In einer demokratischen Gesellschaft ist es wichtig, auf die Hilferufe Bedrängter, Übersehener und Vernachlässigter zu reagieren. Die Robustheit einer Gesellschaft bemisst sich auch daran, inwieweit Streit und Debatte möglich sind. Dafür braucht es demokratische Spielregeln, die – davon war bislang auszugehen – allen öffentlichen Akteuren bekannt sind. Der Rechtspopulismus, seit Mitte der 2010er Jahre in Europa und Nordamerika ein entscheidender Faktor in der öffentlichen Debatte, hat diesen Konsens aufgebrochen. Und er hat damit die Ziele der politischen Debatte – für viele unsichtbar – verändert: an die Stelle des demokratischen Ringens um das bessere Argument, die bessere Politik und die Wählergunst ist die Organisation von Unzufriedenheit und das Schüren von Hass getreten.
Deutlich früher hätten Öffentlichkeit und Politik erkennen können, dass mit der rechtspopulistischen Disruption nicht nur die Debatten erhitzter und unversöhnlicher werden, sondern ziemlich konkret die Axt an demokratische Gepflogenheiten und Institutionen gelegt wird. Das wäre alles kein Beinbruch, hätten relevante Akteure aus den Parteien der Mitte wie Friedrich Merz und Markus Söder, Hubert Aiwanger und Bundesfinanzminister Lindner nicht bemerkt, dass sich mit dem Trick der demagogischen Organisation von Unzufriedenheit zumindest momenthaft Zustimmung generieren lässt. Nebeneffekt dieser Affektpolitik: Dadurch lässt sich parlamentarische „Oppositionalität“ suggerieren, auch wenn selbst keine besseren Konzepte, Themen und Strategien vorgetragen werden. Und da „Opposition Mist ist“ (Franz Müntefering), lässt sich mit antiparlamentarischer Demagogie bei gleichzeitiger Ideenlosigkeit ja vielleicht sogar die nächste Wahl gewinnen.
In diesem Zusammenhang müssen wir die Debatte bewerten, die sich gerade um die Lage der Bauern entspinnt. Aus dem oben Gesagten wird klar, dass es auch jedes andere Thema mit Brisanz seien könnte (und, je näher die Wahlen in diesem Jahr rücken, womöglich auch sein wird). Die Attacken mehrerer hundert Landwirte gegenüber Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck („Komm raus, du Feigling“) markieren eine neue Qualität in der gesellschaftlichen „Debatte“ um Veränderungen.
Friedrich Merz, der Parteivorsitzende der CDU, äußerte sich zunächst zwei Tage gar nicht zu den Übergriffen. Dann verurteilte er in einer Rundmail „jede Form von Gewalt". Im nächsten Satz relativierte er diese Aussage und erging sich - ganz im Stil des Sonntagsreden-Politikers - in einer anspielungsreichen Allgemeinsentenz zu unserem demokratischen System: „Unsere Demokratie“, so Merz weiter, „hat gewaltige Schwächen, und die werden im Augenblick sichtbarer denn je." Unwillkürlich überlegt man: Was hat der Zustand „unserer Demokratie“ mit der Belästigung des Ministers zu tun? Oder andersherum gefragt: Warum beklagt Merz ausgerechnet dann die „Schwächen unserer Demokratie“, wenn ein Minister angegriffen wurde? Zeigt Merz hier Verständnis für das Opfer oder doch eher für die Täter?
Das wird natürlich nicht ausgesprochen. Merz‘ Klage über die „gewaltigen Schwächen der Demokratie“ (wohlgemerkt, nicht über die aktuelle Verfassung der Demokratie) ist ein Standardkniff rechtspopulistischer Rhetorik. Die Demokratiekritik steht direkt, aber unverbunden, neben Merz‘ geschäftsmäßiger Verurteilung der Übergriffe und könnte von Habeck-Bashern auch als klandestines Signal der Solidarität verstanden werden. Wen wundert es: Markus Söder äußerte sich ähnlich eindeutig-zweideutig. Und Donald Trump hat das unzählige Male vorexerziert: formale Verurteilung, bei schleichendem Verständnis für den Mob. Das macht Merz‘ Erklärung ziemlich unerträglich und rückt den CDU-Vorsitzenden in die Nähe eines Rechtspopulisten, der bei Demokratieverächtern und Rechtsextremen antichambriert.
2.
Was die eigentliche Debatte um die Dieselsubventionen und die Transformation des Agrarsektors in der EU angeht, da sind viele Unmutsäußerungen seitens der betroffenen Landwirte durchaus nachvollziehbar. Gerade auch junge Menschen, die als Landwirte Verantwortung übernehmen wollen, sich einer sozial-ökologischen Transformation der Landwirtschaft verbunden fühlen und dafür hohe finanzielle Risiken einzugehen bereit sind, fühlen sich von der Politik nicht wahrgenommen.
Die Starnberger Kreisbäuerin Sonja Frey spricht gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ von dem Gefühl fehlender Wertschätzung: „Die Regierungsmitglieder orientieren sich bei ihren Entscheidungen an den Meinungsbildern aus der Gesellschaft. Und wenn einem da kein allzu hoher Stellenwert eingeräumt wird, ist man bei Sparmaßnahmen eben eher dran als andere. Auf jeden Fall haben wir das Gefühl: Von der Regierung kommt kaum etwas zurück, außer immer wieder neuer Auflagen. Das sorgt für Wut und Enttäuschung.“ Natürlich ist es anfechtbar, wenn Sonja Frey von „niedrigem Stellenwert“ spricht. Doch den Eindruck fehlender Wertschätzung seitens von Gesellschaft und Politik haben in den vergangenen Jahren auch viele Landwirte mir gegenüber als zentralen Punkt für ihren Verdruss geltend gemacht. Ob das nun das Ergebnis von Affektpolitik ist oder auf Defizite in der Kommunikation zwischen Politik/Behörden und Landwirten zurückzuführen ist, muss im Einzelfall geprüft werden. Zum Unbehagen und den Zukunftsängsten vieler Landwirte hat aber auch beigetragen, dass Regierungsvertreter insbesondere der Konservativen seit Jahrzehnten die nachhaltige Modernisierung der Landwirtschaft (Thema „Bio“) blockieren oder als idealistische Spinnerei abtun.
Die Sache wird auch dadurch nicht einfacher, dass große landwirtschaftliche Betriebe in Deutschland tatsächlich gut verdienen und erfolgreiche Jahre hinter sich haben. Bislang nutzte das, was als europäische Agrarstrategie galt, vor allem den europäischen Großbauern, zu denen unter anderem Aldi und die Munich Re gehören. Lange Zeit herrschte das neoliberale Gießkannenprinzip: die Großen wurden von der EU großzügig unterstützt. Der aktuell diskutierte Neuansatz legt die Vergabe von Subventionen jedoch stärker in die Hand einzelner Staaten. Die Bundesregierung könnte dadurch den Artikel 148 der Gemeinsamen Marktorganisation (GMO) der Europäischen Union anwenden. Denn auf diese Weise würde eine Vertragspflicht zwischen den Verarbeitern und den Bäuerinnen und Bauern etabliert, bei der Mengen, Qualitäten, Laufzeiten und Preise verpflichtend festgelegt werden.
3 Learnings
• Bürger:innen zu Agenten des Wandels machen: Der in den Affektmedien so genannte „Baueraufstand 2024“ zeigt, dass wir die vielbeschworene sozial-ökologische Transformation nur dann bewältigen werden, wenn es gelingt Bürger:innen und Interessengruppen zu Teilhabenden und Akteuren des Wandels zu machen. Politik und Gesellschaft, das habe ich in den vergangenen Tagen häufiger betont, müssen dazu beitragen, dass eine „kollektive Selbstbindung“ an gesellschaftliche Veränderung und nachhaltige Modernisierung stattfindet. Dafür ist es meines Erachtens unerlässlich, dass neue Modelle der Partizipation in Form von Bürgerräten, Reallaboren und anderen Instrumenten deliberativer Demokratie einbezogen werden. Populismus ist das genaue Gegenteil von Teilhabe.
• Das Bedenkliche: Rechtspopulismus funktioniert. Nach knapp zehn Jahren der populistischen Provokation in unserem Land, getriggert über SocialMedia und Talkshow-Politik, ist mittlerweile davon auszugehen, dass gesellschaftliche Gruppen wie die Landwirte in der Auseinandersetzung den toxischen Sound adaptieren, der ihnen von Merz, Söder, Aiwanger etc. vorgespielt wird. Zum Auftakt des Wahljahres 2024 deshalb gelten (vor allem an den Talkshow-Journalismus gerichtet): Dagegen sein reicht nicht. Jede Affektpolitikerin und jeder Affektpolitiker darf nicht nur dagegen sein, sie/er muss erklären, was sie/er stattdessen tun würde.
• Schließlich sollten wir uns davor hüten, von DEN Landwirten zu sprechen: Nicht überall schließen sich die Bauern den Protesten an. Die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) Rheinland-Pfalz/Saarland findet die Forderungen des Bauernverbands nicht zukunftsorientiert. Und der Biobauer Ansgar Luzius spricht sich im Südwestrundfunk gegen die Dieselsubventionen aus. Er rät zur Nutzung umweltfreundlicher Subventionen beispielsweise in die Agrarforstwirtschaft und empfiehlt weniger Pflanzenschutzmittel. Zwei Cent mehr pro Liter Milch, so Luzius, würde die Diskussion um den Agrardiesel überflüssig machen.