Interessiert sich eigentlich noch jemand für das Internet? Ich meine, als Tummelplatz für den Austausch von Nachrichten und Belanglosigkeiten? Als Forum für die „Weisheit der Vielen“ und als digitalen Raum der akuten Relevanz, der Kreativität und der Subversion? Es verdichtet sich ein ungeheuerlicher Verdacht: das Internet ist nichts anderes als das RTLplus unserer Gegenwart.
1996 wurde, unseren Recherchen zufolge, zum ersten Mal der Tod des Internets verkündet. Seitdem wiederholt sich das Ritual in ein- bis zwei-jährigen Abständen. Seit einigen Jahren hat sich das Ganze zu einer „Dead-Internet-Verschwörungstheorie“ ins Obskure ausgeweitet.
Was tatsächlich gerade passiert, ist, dass das Supermedium der Information (und seit rund 2014 der Desinformnation) gerade aus der Kommodifizierung von Information auszusteigen scheint. Laut Axios haben die Top-Nachrichten- und Medienseiten in den letzten drei Jahren mehr als die Hälfte der Empfehlungen in den sozialen Medien eingebüßt. 2020 war das Jahr, in dem der Zugriff auf Informationen über das Internet und vor allem die SocialMedia ihren Höhepunkt erreichte. Das war vor allem auch auf die Pandemie zurückzuführen. Seitdem pendelt sich die Nutzung für Informationszwecke auf Vor-Corona-Niveau ein. Das US-Wahljahr 2024 wird sicherlich wieder für Zuwächse sorgen. Doch...
Twitter: 50 shades of trash
In der jüngsten Welle des Abgesangs wurde ein zentraler Totengräber benannt: Elon Musk. Elons neue Algorithmen bevorzugen die großen Klatschthemen (Taylor Swift, 2024: Donald Trump), der Rest ist rechtsradikale Wut und Desinformation.
In einer solchen Situation des Übergangs – und „zwischen den Jahren“ – wird man melancholisch. Jeder von uns wünscht sich in die Medien-Ära zurück, in der sie oder er wichtige Schritte der Persönlichkeitsentwicklung gemacht hat. Insofern können wir auch bei der Frage der Internetzukunft diejenigen Stimmen ignorieren, die behaupten, in den 2010er oder 2000er Jahren sei der digitale Raum witziger, revolutionärer, innovativer gewesen.
Das Internet, das waren in den vergangenen zehn Jahren vor allem SocialMedia, angeführt von den BigTech-Konzernen Facebook, Google, Twitter und Microsoft. Die großen Monopole sorgen mit ihrer Finanzkraft nach wie vor dafür, dass es für Neulinge wie Blue Sky kaum möglich ist, eine relevante Nutzerreichweite aufzubauen.
Nach der Infodemie wächst die Angst vor der Regulierung
Die SocialMedia-Monopolisten Facebook (Instagram, WhatsApp) und Googles Suchmaschinenimperium haben immer weniger Interesse daran, Nachrichten über ihre Plattformen zur Verfügung zu stellen und Nutzer zu Material außerhalb ihrer Feeds zu leiten. Das liegt daran, dass die Megakonzerne erstens mit noch stärkerer Regulierung bezüglich der Verbreitung von Fakenews rechnen müssen. Zweitens nutzen die jungen Internet-Nutzer:innen verstärkt Seiten wie TikTok und Twitch, auf denen Nachrichten eine deutlich geringere Rolle spielen und eher wie Unterhaltungs-TV anmuten. Drittens werden die Anforderungen, für die Nutzung von Nachrichten Tantiemen an Verlage und Networks zahlen zu müssen auf wichtigen Märkten wie Kalifornien und Kanada immer umfangreicher.
Das Internet fühlt sich heute leer und vollgestopft zugleich an, wie ein hallender Flur, auch wenn es mit mehr Inhalten als je zuvor gefüllt ist, jammern die einen. Es fühlt sich weniger lässig informativ an, klagen die anderen. Twitter war in seiner Blütezeit eine Quelle für Echtzeitinformationen, ein guter Ort, an dem man Wind von Entwicklungen bekam, die erst Stunden später in der Presse berichtet wurden, bedauern die anderen. Blog-Posts und TV-Nachrichtensender aggregierten Tweets, um die vorherrschenden kulturellen Trends oder Debatten zu spiegeln. Heute tun sie dasselbe mit TikTok-Posts - siehe die vielen Berichte über gefährliche und möglicherweise gefälschte „TikTok-Trends" (Fakenews der besonderen Art auf TikTok sind ein ganz eigenes Kapitel)
TikTok ist ein Dampfkocher
Aber der TikTok-Feed dämpft aktiv Nachrichten und politische Inhalte, zum Teil, weil TikToks Muttergesellschaft Beijing Bytedance Technology der Zensurpolitik der chinesischen Regierung verpflichtet ist. Stattdessen führt die App durch unzählige Videos von Koch-Events oder lustigen Tierfilmen. Unter dem Deckmantel der Förderung der Gemeinschaft und der nutzergenerierten Kreativität erschwert die Plattform so direkte Interaktion und Debatten.
Die junge Autorin Eleanor Stern, mit 100.000 TikTok-Follower:innen im Rücken, kommt zu dem Schluss, dass soziale Medien hierarchischer geworden sind. „Es gibt diese Kluft, die vorher nicht da war, zwischen Publikum und Schöpfern", sagte Stern. Die Plattformen, die heute bei jungen Nutzern am meisten Zugkraft haben - YouTube, TikTok und Twitch - funktionieren wie Rundfunksender, wobei Produzent:innen ein Video für Millionen von Followern posten ; was die Follower einander zu sagen haben, spielt nicht mehr die Rolle, die es auf dem alten Facebook oder Twitter hatte. Soziale Medien „waren früher eher ein Ort für Konversation und Gegenseitigkeit", erklärt Stern. An das Gespräch (aber auch an Hass, Bullying und Desinformation) ist passives Zuschauen und Zuhören getreten.
Willkommen zurück in den 1990er Jahren, Willkommen in der „Samstag Nacht“ von RTLplus (das neuerdings wieder so heißt). Helmut Thoma, der legendäre Chef von RTL sagte einmal: „Im Seichten kann man nicht ertrinken.“ Es besteht also Hoffnung für das Internet.