Amazons Ladensystem „Grab & Go“ braucht keine Kassen mehr, verwendet dafür aber die Körperdaten seiner Kund*innen. Zeitgleich schickt sich Amazon an, in den USA die Rolle des Hausarztes zu übernehmen. Hinter den beiden Trends steckt nicht nur die Digitalisierung, sondern unsere Pandemie-Erfahrungen mit Handel und Gesundheitsdienstleistern - und die Datensammelwut von Big Tech
Zwei Handelstrends drängen immer mehr in den Vordergrund, die auf den ersten Blick recht wenig miteinander zu tun haben. Zum einen ist das die Tendenz, dass Händler und Drogisten immer mehr Dienstleistungen anbieten, die jahrzehntelang Ärzten und Apothekern vorbehalten waren. Zum anderen sogenannte „autonome Supermärkte“, die durch avancierte Technik Personal und herkömmlichen Bezahlvorgänge überflüssig machen und ein entspannteres Einkaufserlebnis herbeiführen sollen.
Auch im Handel herrscht Fachkräftemangel. Bis 2035, so prognostiziert es PwC könnten deutschlandweit rund 2,5 Millionen Stellen im Handel unbesetzt sein. Die Prognose stützt sich auf Daten des Wirtschaftsinstituts WifOR und der Bundesagentur für Arbeit. Schon jetzt fehlten in der Branche zwischen Juli 2021 und Juni 2022 durchschnittlich mehr als 37.000 passend qualifizierte Fachkräfte, wie eine Studie des Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung (Kofa) des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) ergab.
Alles eine Auswirkung des Megatrends Digitalisierung? Der spielt dabei fraglos eine wichtige Rolle, zumal der elektronische Handel während der Pandemie eine – wenn auch episodische – Bonanza erlebte. Dass Automatisierung Arbeitsplätze einsparen hilft, beziehungsweise fehlende Fachkräfte zu ersetzen vermag, ist ebenfalls Teil von vielen Zukunftsszenarien, die um die „Grab & Go“-Märkte kreisen.
Die Pandemie verstärkt die Mainstreamisierung digitaler Dienstleistungen
Tatsächlich verändern sich die Rollen der Akteure und die Bedürfnisse der Verbraucher in den meisten Dienstleistungssystemen. Die Pandemie hat diesen Systembruch lediglich verstärkt. Gerade in den USA wächst der Wunsch nach einem runderneuerten und digitalisierten Gesundheitssystem. Bereits vor der Pandemie waren 87 Millionen US-Bürger unter- oder gar nicht versichert. Nur drei Viertel der Amerikaner geht zu einem Hausarzt. Und während der Corona-Krise haben noch einmal viele Menschen ihre Krankenversicherung verloren. Einzelhandelsunternehmen wie WalMart und Drogerieketten, respektive Apothekendienstleister wie CVS und Walgreens übernehmen zusätzliche Rollen in der Gesundheitsversorgung: sie impfen, testen und bereiten sich auf weitere „ärztliche“ Aufgaben vor.
CVS verfügte landesweit bereits 2021 über rund 1.500 Gesundheitszentren. Walgreens hat vor zwei Jahren Amazon den ärztlichen Direktversorger VillageMD vor der Nase weggeschnappt und hat für die Errichtung von 500 bis 700 Arztpraxen eine Milliarde US-Dollar in die Hand genommen.
Amazon ist mit dem Kauf von One Medical mit seinen 182 Hausarztfilialen längst auf den neuen hybriden Gesundheitsmarkt aufgesprungen, gewährt bei Medikamenten auf Rezept Rabatte bis zu 80 Prozent und möchte Amazon Prime zum Ökosystem für eine nichtstaatliche, transinstitutionelle Gesundheitsversorgung machen. So avanciert Gesundheit endgültig zum Konsumprodukt, bietet den Millionen von Nichtversicherten auf den ersten Blick jedoch auch die Aussicht auf ein verbessertes Gesundheitserleben. Die Konstrukteure dieser marktliberalen Gesundheitsrevolution beim Drogeriegiganten CVS bestätigen jedenfalls, dass die eigentlich als Pharmazeuten ausgebildeten Mitarbeiter*innen „Appetit auf diese erweiterte Rolle haben“.
Eine neue Rollenzuschreibung versprechen auch die sogenannten autonomen Supermärkte, von denen in Deutschland immer mehr aus dem Boden sprießen.
Fragwürdige Technologie speichert „Körperdaten“ der Käufer*innen
Die Grundlage für das autonome Shopping hat Amazon 2018 mit seinen „Amazon-Go“-Läden gelegt, die mittlerweile in „Just-walk-out“ umgetauft wurden. Die Patentanmeldung erfolgte schon im Jahr 2014 unter dem Titel „Transitioning Items from a Materials Handling Facility“. Der Digitalgigant scheint allerdings nur mäßig zufrieden zu sein mit der Performance. Jedenfalls erfolgt der Rollout immer schleppender; in den USA sind bislang gerade einmal 50 kassenlose Läden am Start, irgendwie sucht Amazon nach wie vor ein gewinnbringendes Geschäftsmodell. Optimistischere Beobachter sehen in der Just-walk-out-Idee jedoch die größte Handels-Innovation der kommenden 30 Jahre.
„Just walk out“-Systeme gestatten es, ohne nerviges Warten an der Kasse den Supermarkt zu betreten, Einkäufe zu tätigen und den Laden ohne Kassen-Stopp verlassen zu können. Die Technologie dahinter ist faszinierend und angsteinflößend zugleich: Via Smartphone und App wird das Konto der Kund*innen bei Betreten des Ladens aktiviert. Über im Boden eingelassene Kameras und Gewichtssensoren wird der Einkauf „gescannt“. „Grab & Go“, die Ware grabschen und raus aus dem Laden, wie das kassenlose system auch genannt wird, bekommt hier eine zusätzliche Bedeutung. Körperliche Merkmale des Kunden werden im Bezahlsystem des autonomen Rewe-Prototyps mit einer fortlaufenden Nummer gespeichert - Einchecken in der schönen neuen Welt des autonomen Einkaufens bedeutet auch, dass der Anbieter jede Menge persönlicher Daten „abgreift“. AiFi (Kalifornien, USA), Trigo (Israel), Sensei (Portugal) und UST Global (Kalifornien, USA) sind zurzeit die relevantesten internationalen Dienstleister für die Implementierung der Technologie.
Edeka ist hierzulande nahezu der einzige Akteur, der von der Vision der „kassenlosen Gesellschaft“ beim Lebensmitteleinkauf nicht viel wissen will. Rewe nennt seine beiden Experimentierfilialen in Köln und Berlin „Pick & Go“
Wer sagt, dass der Fortschritt auf dem Land immer später ankommt?
Tegut setzt mit seinem autonomen Ladenformat „Teo“ eine andere Technologie ein. Laut „Lebensmittelzeitung“ stehen in den „Teo“-Märkten auf rund 50 Quadratmetern rund 950 Artikel zur Verfügung. In Hessen, Baden-Württemberg und Bayern sind bereits 30 „Teos“ am Start. Neue Technologien scheinen auf dem Land und in den Metropolen gefragt, jedenfalls plant Tegut zusammen mit dem Technologiepartner Wanzl in diesem Jahr 15 bis 20 weitere „Teos“ sowohl in der Stadt als auch im ländlichen Raum.
In Emden, Ostfriesland, testet Nahkauf zurzeit einen interessanten Hybridmarkt. Herkömmliche Kassen können zu den normalen Geschäftszeiten genutzt werden. Morgens zwischen 6 und 8 Uhr sowie abends zwischen 18 und 23 Uhr erfolgt der Eintritt in den Laden über Bankkarte, Kundenkarte oder App. Zu diesen Zeiten wird über Selfscanning-Kassen gezahlt. Das Alkoholsortiment befindet sich in einem getrennten Raum; Kunden müssen sich über Ausweis oder Führerschein authentifizieren.
Einkaufen verändert seinen Erlebnischarakter. Zugleich wird der digitalisierte Handel mit intimen Daten seiner Kund*innen beschenkt. Da könnten die digitalen Händler auch gleich in das Gesundheitsmanagement seiner Kundinnen und Kunden einsteigen.
Fazit
Spätestens seit dem Kauf von One Medical im vergangenen Jahr für 3,9 Milliarden US-Dollar ist klar, dass Amazon ernst macht. Gesundheit lässt sich als Bestandteil des digitalen Erlebniskonsums organisieren. Zumindest in den USA – während der Pandemie mit einem dysfunktionalen Gesundheitssystem konfrontiert – verspricht „Dr. Amazon“ eine bessere Gesundheitsversorgung für mehr als 100 Millionen Menschen. Gesundheitsdienstleistungen vermischen sich dabei mit der Konsumsphäre - und Amazon Prime kapitalisiert die personenbezogenen Daten. Dass nicht nur der böse Gigant Amazon am digitalen Rad dreht, zeigen die Investitionen von Handelsgrößen wie WalMart, CVS, Walgreens und noch vielen anderen. Erst kürzlich schnappte CVS Amazon den medizinischen Primärversorger Signify Health (10.000 Vertragsärzte und -pfleger in 50 US-Bundesstaaten) für satte acht Milliarden US-Dollar vor der Nase weg. Konsum, Gesundheit, Ernährung, demnächst alles auf Amazon Prime!