· 

Wertschöpfung mit Wertschätzung. Die Zukunft der Ernährung, 5 Trends

Quelle: shutterstock
Quelle: shutterstock

Corporate Crops, so nennen angloamerikanische Ernährungswissenschaftler Produkte, die wir massenweise essen, obwohl sie fast keinen Nährwert haben – dafür aber gut sind für die Umsätze und Usancen des globalen Ernährungssystems.

 

Eisbergsalat ist beispielsweise so ein Corporate Crop. Das Produkt schmeckt penetrant nach nichts, doch es übersteht auch wochenlangen Transport in Schiffscontainern und auf Lkws, ohne unansehnlich zu werden. Wer fragt schon danach, wie das Zeug schmeckt?

 

Wir lernen hieraus: Offensichtlich ist der global operierenden Ernährungsbranche die Effizienz ihrer Abläufe wichtiger als das Produkt selbst. Doch da es sich bei den Produkten um unser Essen handelt, auf das wir nicht verzichten können, sollte uns das misstrauisch machen.

 

Der globale Nahrungsmittelmarkt ist geprägt von gigantischen Logistiknetzwerken bei nur geringen Gewinnspannen. Nur durch die stringente Globalisierung und die Zentralisierung des Marktes auf wenige große Akteure können überhaupt akzeptable Gewinnmargen erzielt werden.

 

Lebensmittel legen im Durchschnitt 2.500 Kilometer an Transportwegen zurück, bevor sie bei uns auf dem Teller landen. Ohne hochkomplexe Vertriebsnetze ist die globale Ernährungsindustrie nicht vorstellbar. Bei einem gewöhnlichen Schokoriegel aus dem Supermarktregal kommt der Kakao aus Westafrika, der Zucker aus der Karibik, das Palmöl aus Südostasien, das Soja aus Südamerika und das Calciumsulfat aus Indien. Banale Produkte unseres Ernährungsalltags werden (darin nur noch dem Flugzeug- und Autobau vergleichbar) über mehrere Kontinente hinweg „zusammengebaut“.

 

Lebensmittel: Marktkonzentration hat fatale Folgen für die globale Versorgung

 

Die Marktkonzentration auf den gestressten Nahrungsmittelmärkten, wie sie in den vergangenen rund 40 Jahren Gestalt angenommen hat, führte in den ersten Wochen der Corona-Pandemie dazu, dass der Ausfall von kleinsten Kettengliedern in der Logistikkette (ein kleines Schlachthaus, wo auch immer) sofort das gesamte System der globalen Versorgung in Gefahr brachte.

 

Als John Tyson, der mächtige CEO von Tyson Food, dem zweitgrößten Fleischverarbeiter der USA, in den ersten Wochen der Coronakrise vor dem Zusammenbruch der internationalen Lebensmittellogistik warnte, schritt umgehend US-Präsident Donald Trump ein und setzte den „Defense Production Act“ in Kraft.

 

Das Gesetz wurde in Zeiten des Koreakriegs entworfen und bevollmächtigt den US-Präsidenten, Industriebetriebe zur Produktion bestimmter Güter zu verpflichten. Wohlgemerkt, Trump ordnete nicht die Produktion von Schutzmasken oder Ähnliches an, er befahl, dass die Massenproduktion von Fleisch um jeden Preis aufrechterhalten werden müsse.

 

Lausig bezahlte Immigranten in den Schlachthäusern galten dadurch plötzlich als systemrelevant und riskierten ihre Gesundheit und die anderer, um die „Fleischversorgung“ der Burger-Nation weiterhin sicherzustellen. Und natürlich sorgte sich auch Tyson Food nicht nur um das Nahrungsmittelsystem, die Profitabilität der Fleischindustrie stand plötzlich auf dem Spiel.

 

Massentierhaltung verursacht genauso viel Treibhausgasemissionen wie Verkehr

 

Wir müssen als Gesellschaft in den nächsten Jahren darüber nachdenken, was wir essen und wie wir die Nahrungsmittelindustrie umgestalten können. Der weltweite Fleischkonsum stellt eine erhebliche Belastung für das Klima dar. Laut Schätzungen der Welternährungsorganisation der Uno verursacht die Massentierhaltung mit 14,5 Prozent gleich hohe Treibhausgasemissionen wie der globale Verkehr.

 

Dabei müssen wir den Fleischkonsum nicht abschaffen. Doch Fleisch war über Jahrhunderte ein Luxusgut. Und heute lässt sich das globale Wohlstandssystem, das für die globalen Mittelschichten direkt mit Fleischgenuss verknüpft ist, nur durch Billiglöhne, menschenverachtende Arbeitsbedingungen und unsägliches Tierleiden in der Nahrungsmittelindustrie aufrechterhalten.

 

Wir brauchen nicht nur eine andere Wertschöpfungs-, sondern vor allem auch eine neue Wertschätzungskultur für Nahrungsmittel. Der amerikanische Food-Guru Michael Pollan unterscheidet klugerweise zwischen Rohstoffen wie Soja und Mais (beides wird industriell in erster Linie als Tierfutter angebaut) und Lebensmitteln, die die Bezeichnung wirklich verdienen, weil sie den Menschen (und den Produzenten) ein gutes Leben ermöglichen.

 

Lebensmittelindustrie: So funktioniert nachhaltige Wertschöpfung

 

Wie sollten Gegenmaßnahmen aussehen, die ein neues Ernährungssystem möglich machen?

 

• Regionaler: Regionale Produktionsabläufe garantieren mehr Versorgungssicherheit und mehr Systemrobustheit innerhalb der gesamten Nahrungsmittelkette. In einer extrem zentralisierten und bei den Herstellern oligopolisierten Landwirtschaft wie den USA hat der Boom der Wochenmärkte dafür gesorgt, dass eine hochwertige Lebensmittelversorgung in vielen Teilen des Landes weiter gewährleistet werden konnte.

 

• Mittelständischer: Im Anschluss an die positiven Effekte regionaler und lokaler Wertschöpfung in der Pandemie ist die Politik gefordert, Mittelstand und Kleinunternehmen entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu fördern. Keywords für eine Kampagne lassen sich schnell finden: Es geht um (Lebens-)Qualität statt betriebswirtschaftlicher Effizienz.

 

• Ehrlicher: Im Supermarkt ausgewiesene „wahre Preise“ („true cost“) zeigen den Konsumenten, was gutes Essen wirklich kostet und welchen Einfluss schlechte Ernährung und Pestizideinsatz auf das Gesundheitssystem und die individuelle Lebenserwartung haben. Der Discounter Penny hat dazu in Zusammenarbeit mit der Universität Augsburg ein Pilotprojekt gestartet.

 

• Glaubwürdiger: Über das Instrument der „true cost“ wird auch eine zielführende Diskussion über zukünftige Lebens- und Ernährungsstile möglich. Aus einer Studie von Ernst & Young in Verbindung mit Soil & More, einer Beratungsagentur für nachhaltige Landwirtschaft, geht hervor, dass sich – legt man die „true cost“ zugrunde – beispielsweise Bioäpfel günstiger produzieren lassen als konventionelle. 
Es wird EU-weit auch über 2050 hinaus keine Knappheiten in der Nahrungsmittelversorgung geben, wenn die Umstellung auf eine stärker pflanzlich basierte Ernährung gelingt. Hersteller und Handel, die diesen Wandel mit anschieben helfen, erhalten dadurch die Möglichkeit, das eigene Image aufzupolieren, indem sie den Kunden aufzeigen, wie gesunde Ernährung in Zukunft aussieht und welchen Preis sie hat. 

 

• Nachhaltiger: Für die tatsächliche Einpreisung der wahren Kosten im Laden um die Ecke ist schließlich die Landwirtschaftsministerin verantwortlich. Grundlage dafür ist eine nachhaltige Ernährungspolitik, die mehr Lenkungsmacht entfaltet als bislang. Die Richtung ist klar: deutlich mehr Förderung für Bioprodukte und eine tiergerechte Produktion. Das Ergebnis wären dann eine (leicht) geringere Produktion, gesündere Lebensstile und eine erhöhte Lebenserwartung.

 

Die Lancet Commission („Food in the Anthropocene“) bringt es auf den Punkt: Unsere Ernährung und die Art und Weise, wie wir unsere Nahrung herstellen, entscheiden über unsere Gesundheit und die Gesundheit des Planeten.

 

Zuerst erschienen in Handelsblatt, 12. März 2021