Die Lehren aus dem Versagen der amerikanischen Regierung angesichts der Ermordung George Floyds und des Corona-Massensterbens (von drei Sport-Headcoaches).
Ein weitergedachtes Hörprotokoll zu einem denkwürdigen Gespräch.
Wie lässt sich das Zerbrechen der USA als Gesellschaft verhindern? Mit Teamgeist, einer neuen Gemeinschaftsidee, und Leadership könnte sich vielleicht etwas verändern. Also fragen wir Experten dafür: Trainerlegenden aus dem Sport, Basketball und Football.
Selten hat mir so unmittelbar eingeleuchtet, was Leadership ausmacht und weswegen in einer Situation wie gerade jetzt in den USA etwas wie „good leadership“ so wichtig ist. Das Szenario dafür: Ein Podcast-Gespräch zwischen Steve Kerr, 54, Headcoach des zweimaligen NBA-Champions Golden State Warriors, Pete Carroll, 69, Headcoach der Seattle Seahawks, Super-Bowl-Gewinner 2014, und Gregg Popovich, 71, Trainer- und Managementlegende der San Antonio Spurs, als Headcoach fünfmaliger NBA-Champion.
Die Abschnitte, in denen ich stärker kommentiere und weniger protokolliere, sind kursiv gesetzt.
Bei allen dreien herrscht Betroffenheit und das Ringen um die richtigen Worte. „Again and again and again...“, insbesondere Kerr und Popovich wirken gequält von den sich scheinbar unendlich wiederholenden Übergriffen der Polizei gegenüber Schwarzen. Kerr (der als Spieler fünf NBA-Championships gewann, zwei davon für die San Antonio Spurs unter Gregg Popovich) fängt Betroffenheit und Verzweiflung damit ab, dass er das Geschehen in eine historische Perspektive einrückt: „So geht das seit 400 Jahren.“ Von dem Jim-Crow-Stereotyp des faulen und stehlenden Schwarzen in der Populärkultur des 19. Jahrhunderts, das das Blackfacing verankerte, über die Rassentrennungsgesetze bis in die 1960er Jahre, die Ermordung Rodney Kings vor 28 Jahren, Colin Kaepernick, der von Trump als Hurensohn beschimpft wurde, bis zu George Floyds Tod am 25. Mai 2020.
„Again and again and again...“, die ewige Wiederkehr des Verdrängten, dürfes es nicht weiter gehen. Auch die Weißen, so Kerr, könnten so nicht weiterleben. Schweigen ist Komplizenschaft, ergänz Popovich. Wer jetzt nicht handelt, macht sich zum Komplizen der Rassisten.
Ohne Leadership ist Trauerarbeit nicht möglich
In einer späteren Videobotschaft vom 06. Juni 2020 wird Popovich darauf hinweisen, dass die Vereinigten Staaten seit ihrer Gründung mit einer Lüge leben. Kerr fordert, dass so etwas wie Trauerarbeit stattfinden müsse. Dafür brauche es aber eine Führung im Land: „We must trust our leaders.“ Es brauche Glaubwürdigkeit und (historische) Bildung, ohne die es keine Empathie und keine Trauerarbeit geben könne.
Gregg Popovich spricht in dem Video noch eindringlicher von einem nonchallanten Mord („nonchallant and casual“). Beiläufig, mit Imponiergehabe, kniet der Polizist auf dem Nacken von George Floyd, die Hände in den Hosentaschen, während Floyd unter ihm stirbt. Die Gefühllosigkeit und der Sadismus machen Popovich zu schaffen.
Als Coach von männlichen Hochleistungssportlern ist er es gewohnt, alltäglich mit Aggressionen und körperlichem Wettstreit bis zur Schmerzensgrenze umzugehen. Sadistische Brutalität macht ihn jedoch fassungslos.
Für Kerr, der sich in den vergangenen Monaten deutlich kritisch, mitunter verzweifelt und zunehmend ungläubig-kopfschüttelnd gegenüber Trump geäußert hat, ist die Frage „what’s next“ relativ klar zu beantworten: Schwarze und Minderheiten dürften nicht länger mit dem Problem allein gelassen werden, denn es gibt einen eindeutigen Verursacher: „We are the problem, the white people, we have to be ANTI“, ergänzt Carroll. Das Bekenntnis, nicht rassistisch zu sein, reicht nicht mehr aus, es braucht Veränderungen. Und die müssen ab jetzt von den Weißen ausgehen. Popovich: „The System has to change.“
Die Headcoaches diskutieren die Führungslosigkeit eines Landes, das gerade an der Pandemie und Rassenkonflikten zu zerbrechen droht, an diesem Tag (3. Juni 2020) unter dem Eindruck der beginnenden Proteste und eines Präsidenten, der zwei Tage zuvor vorübergehend Schutz im Bunker des Weiße Hauses suchte. Trump - das wird mir als Zuhörer außerhalb der USA auf schockierende Weise deutlich - ist die Abwesenheit von Leadership: Er lebt in einer alternativen Wirklichkeit, versteckt sich hinter Fake News, Desinformation und Lügen und flieht, wenn es eng wird, in den Bunker des Weißen Hauses.
Während Trump seit Amtsantritt Leadership verweigert, erklärt Popovich, Schuld und Versöhnung werde nur durch Leadership möglich: „Truthful, transparent, and heartfelt“. Nur so kann ein Prozess des Trauerns und der Versöhnung in Gang kommen, der den Weg freimacht, für eine neue US-Realität des Zusammenlebens.
Geschichtsunterricht für den Headcoach vom eigenen Spieler
Steve Kerr, ein sensibler, nachdenklicher Mann, dessen Vater während der identitätspolitischen Turbulenzen im Libanon von islamistischen Fundamentalisten erschossen wurde, gesteht in dem Gespräch, dass er sich von seinem Spieler, André Iguodala erklären lassen musste, was sich hinter den „Tulsa race riots“ verbirgt.
André Iguodola ist ein athletischer Gigant, ein durchtrainierter Zweimetermann, der es als Basketballprofi der Golden State Warriors gerne auch unter dem Korb mit 2,15-Hünen aufnahm. Von seinem farbigen Spieler bekamen Kerr die Geschichtsstunde erteilt. Iguodala sprach ihn eines Tages auf die „Tulsa race riots“ an. Bis dahin wusste Kerr, der sich auf der Highschool und am College intensiv mit Geschichte beschäftigt hatte, nichts von diesem Massaker. Keine Notiz davon in der vorherrschenden Geschichtsschreibung.
Bei den Rassenunruhen in Tulsa, Oklahoma, vom 31. Mai und 1. Juni 1921 kamen bis zu 300 Menschen ums Leben. Die Unruhen zählen zu den verheerendsten Rassenunruhen in der amerikanischen Geschichte. Der Auslöser für das Gemetzel war ein Zeitungsbericht über die vermeintliche Vergewaltigung eines weißen Mädchens durch einen afroamerikanischen Mann. Nachdem sich einige Schwarze Tulsas bewaffnet hatten, um weiße Lynchjustiz zu verhindern, kam es vor dem Courthouse zu einer Konfrontation, die den Beginn der Rassenunruhen markierte.
Leadership setzt vor allem Mut voraus (den Trump nicht hat)
Die drei Coaches beklagen Empathielosigkeit und Nonchallance („expressionless“) nicht nur bei dem Mörder von George Floyd, sondern auch in Trumps Reaktion darauf, die mehrere Tage nach dem Mord - viel zu spät - erfolgte. Leadership aber hieße: Auf Basis der eigenen Befindlichkeit die Ereignisse zeitnah mit Betroffenheit einordnen. Popovich selbst bekennt, dass ihn die Situation des Lockdowns und der vielen Toten in den vergangenen Tagen besonders sensibel für Schmerz gemacht habe: „Semidepressed durch die Virus-Quarantäne, checkst du deine Befindlichkeiten“. Und dann diese empathielose Reaktion des Präsidenten.
Kerrs Podcast-Kollege Pete Carroll agiert in dem Gespräch anfangs eher zurückhaltend, stürzt sich im Verlauf dann aber mit der Präzision eines Raubvogels auf wichtige Zusammenhänge und Schlüsselbegriffe und liefert hervorragende Zuspitzungen. Er erklärt, dass Leadership, die Anforderung, ein Team, ein Gruppen von Menschen anzuleiten, vor allem Mut voraussetze: „Leadership and courage go hand in hand“.
Am 1. Juni 2020 in einem Gespräch mit „The Nation“ gibt Popovich eine Antwort darauf und knöpft sich noch einmal Trump vor: „He is a coward. He creates a situation and runs away like a grade-schooler. Actually, I think it’s best to ignore him. There is nothing he can do to make this better because of who he is: a deranged idiot.” Damit er sich nicht zu Demokratie und “Black lives matter” bekennen müsse, verstecke sich der Präsident im Keller des Weißen Hauses.
Das Wort Empathie fällt zwischen ihnen nicht, aber Popovich macht deutlich, dass Leadership bedeutet, Frustrationen zu verstehen, die eigenen, aber vor allem die der Schwarzen. Reformpläne für die Polizei, ebenso die Infrastruktur für die Pandemiebekämpfung und ein neues Gesundheitssystem – alles wurde von der Trump-Administration in die Toilette gekippt, beklagt Popovich.
Popovich bemüht ein starkes Bild, um zu veranschaulichen, wie ihm Polizeigewalt in den USA mittlerweile anmutet: Wie die Sowjets, als sie 1956 in der ungarischen Hauptstadt Budapest einmarschierten; mit Panzern in die Straßen einer eigentlich befreundeten Nation eindrangen und mit diesen Panzern den Menschen auf der Straße wortwörtlich auf den Leib rückten. Schwarze, so Popovich nehmen die Polizei in den USA in ähnlicher Weise wie eine Invasionsarmee („Invading Force“) wahr.
Leadership – bzw. Trumps Impotenz
Gegen Ende des Gesprächs führt Carroll mehrere Fäden zusammen, wenn er über seine Erfahrungen mit Leadership spricht. Der Erfolgscoach in einer ausgeprägten Machosportart wie American Football spricht nicht über Härte und Kraftmeierei: „Listen to them and feel them“, das ist Leadership. Leadership bedeutet Zuhören-können. Und die hartgesottenen Football- und Basketball-Coaches sehen neben dem Mut zur Verantwortung noch einen zweiten zentralen Begriff für verantwortungsvolles Führen: Caring. Leadership ist geduldige Kümmererarbeit.
Carroll verlangt von Leadership ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein für die Gemeinschaft und jeden einzelnen ihrer Akteure. Leadership bedeutet für Carroll, stets selbst die Verantwortung dafür zu übernehmen, was passiert („Hold yourself accountable“). Das, so Carroll, sind eigentlich Basics für jemanden, der in einer Führungsposition arbeitet.
Aber in den USA – das sagt Carroll nicht ausdrücklich – findet seit dem Amtsantritt von Trump keine Leadership mehr statt. So lässt sich am besten ein demokratisches Gemeinwesen zerstören.
Bei Leadership geht es zuallererst und immer um die anderen, einen konkreten Gegenüber und eine Gemeinschaft, die organisiert werden muss. Es geht darum, die anderen so gut zu machen, wie es nur geht, betont Carroll. (Popovich zu Beginn des Podcasts: „Trump geht es nur um sich selbst, nur um seine eigenen Ziele.“)
Wer es immer noch nicht verstanden hat: Wer führt, muss nicht dominieren. Muss keine einsamen Entscheidungen treffen und den Willen der Untergebenen brechen.
Carroll wird hier sehr eindringlich. Man kann das als Quintessenz seiner Headcoach-Erfahrungen lesen und als Antwort an den weißen Elefanten, der während dieses Leadership-Diskurses permanent im Raum steht: Donald Trump. Ohne eine spürbare Beziehung zu einem Gegenüber, so Carroll, gibt es so etwas wie Leadership nicht. Den Menschen, mit denen ich eine Gemeinschaft bilde, zu helfen, ihnen zu dienen und das Beste aus ihnen zu machen, das ist im Verständnis des Football-Coaches Leadership.
Und das ist es, was in der Corona-Politik Trumps und im Zusammenhang mit dem Mord an George Floyd nirgendwo wahrnehmbar ist. Führungsverweigerung als Werkzeug, um die Demokratie abzuschaffen.
Verantwortung zu übernehmen für das, was passiert, heißt zugleich auch sich selbst zu vertrauen und Vertrauen in die eigenen Entscheidungen zu entwickeln: „stand up for you know what‘s right and take the hit“. Dann passieren gute Dinge, so Carroll weiter, denn du weißt, du tust etwas aus den richtigen Begründungen heraus, und die Menschen werden deine Beweggründe nachvollziehen können. Hier wird noch einmal Trumps zersetzende Abwesenheit, die zerstörerische und inhumane Verweigerung von Führung in der USA-Politik schreiend deutlich: Trump wirkt bei jeder Entscheidung unbeteiligt, wie ferngesteuert. Vertrauen stiften kann nur derjenige, der mutig eigene Entscheidungen fällt, sie im Einvernehmen mit den Menschen fällt und bereit ist für die eigenen Entscheidungen einzustehen. Dafür braucht es Vertrauen - in die eigene Persönlichkeit, Selbstvertrauen und ein Verhältnis zu sich selbst. Eigenschaften, die dem Narzissten Trump nicht fremder sein könnten.
Leadership heißt schließlich, Dinge mit Überzeugung zu tun, fährt Carroll fort.
Das hat nichts mit autoritärem Auftreten zu tun, sondern damit, die entscheidenden Dinge mit Mut und Verantwortungsbewusstsein durchdrungen zuhaben.
Mit Überzeugung, so Carroll, kommst du auch durch schlechte Zeiten und wirst Rückschläge gut verarbeiten. Dafür geradestehen und haften, was man tut. Es macht dich stärker und überzeugender.
So entsteht Integrität und am Ende so etwas wie Identität. Werte, die der amerikanischen Regierungspolitik und dem in einem Kulturkampf zerrissenen Land auf so bittere Weise fehlen.