Ungleichheit ist ein Verhinderer von Wachstum mit radikalen Folgen

Es ist ein Irrglaube, dass Ungleichheit zu einer Wachstumswirtschaft dazugehört. Im Gegenteil: Ungleichheit zerstört Demokratien und Hoffnung.

Kürzlich ist das neue Buch von Thomas Piketty „Kapital und Ideologie“ in deutscher Übersetzung erschienen. Der französische Ökonom gilt als derjenige, der das weltumspannende Phänomen der Ungleichheit am hellsichtigsten zu analysieren versteht und dabei vor dem virtuosen Umgang mit gigantischen Zahlenwerken nicht zurückschreckt. 

 

In den westlichen Gesellschaften ist das Phänomen der Ungleichheit seit den 1990er-Jahren erkennbar – allerdings wollten wir davon über Jahrzehnte keine Kenntnis nehmen. Mittlerweile lässt sich mit unterschiedlichen Studien nachweisen, dass populistische Bewegungen seit den 1990er-Jahren – der Hochzeit des Marktliberalismus – von steigender Ungleichheit profitiert haben.

 

Von marktliberalen Evangelisten nach wie vor als das Salz in der Suppe einer forcierten Wettbewerbsgesellschaft gesehen, hat sich Ungleichheit längst als Demokratiekiller herausgestellt. Die Deregulierung seit dem Ende der 1980er-Jahre hat eben nicht zu dem Trickle-down-Zaubereffekt geführt, bei dem der Reichtum der Reichsten auch nach unten zu den Ärmsten der Armen durchsickern sollte.

Leider haben wir die „dritte Welle der Demokratisierung“, wie es der konservative Historiker Samuel Huntington genannt hat, bereits hinter uns. Nach dem Mauerfall folgte keine vierte Demokratisierungswelle, vielmehr leben mittlerweile zwei Drittel der Menschheit in autoritären Staaten.

 

Krass angestiegene Ungleichheit in den USA hat Donald Trump zum Präsidenten gemacht und die untere Mittelschicht sowie die Arbeiterklasse in den USA in eine verzweifelte Lage gebracht. Die Princeton-Ökonomen Anne Case und Angus Deaton sprechen deshalb von „death of despair“ – Tod aus Verzweiflung –, gesunkener Lebenserwartung vor allem unter der älteren weißen US-Bevölkerung und unter der abstiegsgefährdeten Mittelschicht ohne Hochschulabschluss.

Tod aus Verzweiflung heißt: Immer schlechter bezahlte „bullshit jobs“ bei global operierenden Unternehmen, die wenig Identifikation mit der Arbeit ermöglichen, haben dramatisch ansteigende Zahlen bei chronischen Erkrankungen wie Übergewicht und Diabetes zur Folge. Schwindende Arbeitnehmerrechte, eingeschüchterte Gewerkschaften sowie die Entstrukturierung des Tagesablaufs durch unregelmäßige Arbeitszeiten und daraus folgender Verlust der Bindung an Gemeinschaft und Kirchen führen in den USA zu explodierenden Suizidraten in der unteren Mittelschicht.

Unbestritten ist auch, dass Ungleichheit in Volkswirtschaften wie Russland, China, Indien und den USA am stärksten verbreitet ist, wo sie Oligarchen gestützt und autoritäre Strukturen zementiert hat. Dass Ungleichheit sich in Russland anschickt, noch gravierender zu werden als in den USA, liegt auch an den Einkommensquellen der Oligarchen. 

 

Die bestehen bekanntlich in erster Linie aus Erdöl- und Erdgasressourcen, deren Kapitalisierung zwar möglichst intakte Infrastrukturen, aber kaum relevante Zahlen an menschlicher Arbeitskraft benötigt. Allein das sorgt dafür, dass in den Erdölländern Ungleichheit immer krassere Züge annimmt. Wir müssen davon ausgehen, dass sie in wenigen Jahren zu noch stärkeren sozialen Konflikten führen wird, da sich abzeichnet, dass der Erdölpreis auf niedrigem Niveau verharren wird und die fossile Energie-Ära ihrem Ende entgegengeht.

 

Eine besonders schmerzliche Auswirkung von sozialer, kultureller und finanzieller Ungleichheit besteht darin, dass in den betroffenen Gesellschaften „soziale Aufwärtsmobilität“ ins Stocken gerät. Wer seinen Kindern nicht mehr erzählen kann, dass es ihnen – wenn sie die normalen Bildungsgänge halbwegs erfolgreich absolvieren – mindestens genauso gut gehen wird wie der Elterngeneration, ist bereits in der bleiernen Zeit der Stagnation oder der befürchteten oder realen Abstiegsangst angekommen.

Ungleichheit ist ein schleichendes Gift

Wichtiger vielleicht noch: Auch kulturell-emotionale Ungleichheit, das Gefühl, in einer Gesellschaft nicht dazuzugehören und abgehängt zu sein, bedroht die Demokratie. Es führt zu mentalen Deformationen, zum „Verlust der Würde“ in breiten Schichten der Gesellschaft, wie es der US-Politologe Francis Fukuyama formuliert hat. Ungleichheit ist, wie wir sehen, ein globales und generalisiertes Phänomen, weswegen wir es als Megatrend analysieren und einstufen. 

 

Ungleichheit ist ein schleichendes Gift, weil es nicht nur die unmittelbar Betroffenen in Apathie und Hoffnungslosigkeit stürzt, sondern für große sozioökonomische Verwerfungen wie Demokratieverlust, populistische Revolten und – auf einer psychosozialen Ebene – Demoralisierung und Hoffnungslosigkeit sorgt.

Piketty ist es wichtig zu betonen, dass er für einen „partizipativen Sozialismus“ eintritt. Das Beharren auf der korrumpierten Vokabel Sozialismus leuchtet nicht unmittelbar ein. Doch es geht Piketty tatsächlich darum, an ewigen Wahrheiten zu rütteln und auch geheiligte Begrifflichkeiten wie das Recht auf Eigentum infrage zu stellen.

 

Die Vorschläge, die er für eine zukunftsfähige Gesellschaft macht, sind nicht minder polarisierend, sollten aber unbedingt wahrgenommen und weitergedacht werden. Denn am Ende liefert Piketty jede Menge interessanter Anregungen, die Auswege aus der demokratiezersetzenden Ungleichheit unseres Hier und Jetzt aufzeigen. 

 

Piketty reißt die Mauern des ökonomischen Common Sense vor allem an den folgenden Stellen ein:

Ungleichheit und Wohlstand

Zahlen zwischen 1880 und 1914, wo 80 bis 90 Prozent des Vermögens auf die reichsten zehn Prozent entfielen, belegen eindeutig, dass extreme Ungleichheit und Eigentumskonzentration zu Nationalismus und Kriegen führten. Der Wirtschaftsaufschwung nach 1945 zeichnete sich dagegen als Ära sinkender Ungleichheit aus. Noch nie und wahrscheinlich nie mehr konnte ein ähnlich hohes Wohlstandsniveau erreicht werden, von dem Reiche und Arme gleichermaßen profitierten.

Eigentumssteuer statt Erbschaftsteuer

Um Ungleichheit zu korrigieren, schlägt Piketty eine jährliche progressive Steuer auf Eigentum statt der leichter manipulierbaren Einkommensteuer vor. Gegenüber der unbeliebten Erbschaftsteuer hat Pikettys Überlegung den Vorteil, dass sich Steuern aus aktuellen Gewinnen sofort verteilen lassen. Zur Finanzierung des Sozialstaats ist eine progressive Einkommensteuer Piketty zufolge dennoch unverzichtbar. Über diese Steuer wird neben Sozialbeiträgen auch eine CO2-Abgabe erhoben. Piketty widerspricht damit auch Modellen des bedingungslosen Grundeinkommens, die mit dem Grundeinkommen die Verabschiedung vom Sozialstaat verbinden.

Kapitalausstattung durch Vermögensverjüngung

Die progressive Eigentumssteuer soll auch dafür sorgen, dass wirtschaftliche Sondereffekte wie technologische Revolutionen, Privatisierungen, explodierende Renditen oder Winner-takes-all-Ökonomien nicht nur den Innovationspionieren, sondern der gesamten Gesellschaft zugutekommen. Aktuell besitzen die unteren 50 Prozent der Gesellschaft lediglich fünf bis zehn Prozent des weltweiten Durchschnittsvermögens. Entscheidend ist, dass eine „Vermögensverjüngung“ stattfindet. Kapital aus Gewinnen kommt schneller wieder in Umlauf und kann zum Wohle der Gesamtgesellschaft eingesetzt werden. Piketty ist hier ebenso hemdsärmelig wie radikal: Wenn es stimmt, dass das weltweite Durchschnittseinkommen rund 200.000 Euro beträgt, dann ließen sich zumindest 120.000 Euro für eine „Kapitalausstattung“ der jungen Erwachsenen im Alter von etwa 25 Jahren einsetzen.

Teilhabe für die unteren 50 Prozent

Auf diese Weise ließe sich eine finanzielle Umverteilung organisieren, die es insbesondere den unteren 50 Prozent in unserer Gesellschaft gestattete, aktiv am Wirtschaftsleben zu partizipieren. Diese Form der Teilhabe hat in den vergangenen 30 Jahren faktisch nicht mehr stattgefunden, was hauptursächlich dazu geführt hat, dass Ungleichheit und Populismus unsere Gesellschaft spalten und die Demokratie gefährden konnten.

Eigentum auf Zeit

Werden die Gewinne der Weltunternehmen dergestalt radikal besteuert, zahlen die Big Player laut Piketty nur an die Gesellschaft zurück, was die Gesellschaft vorher in Form von Infrastrukturen und Bildung in die Unternehmen investiert hat. Hier ist Piketty tatsächlich ein Ursozialist: Wem gehören Straßen und Glasfaserkabel, wem gehören die Gewinne aus der Gig Economy? Für die Gesellschaft der Zukunft geht es um eine möglichst dynamische „Eigentumszirkulation“, die verhindert, dass sich Menschen angesichts aktueller Trends wie Migration oder Digitalisierung abgehängt fühlen.


Dieser Artikel ist am 14. März 2020 als Kolumne von Eike Wenzel im Handelsblatt erschienen.