Wir bezeichnen einen der 15 Megatrends als Neourbanisierung. Diese 15 Megatrends werden die Veränderung unserer Welt in den nächsten 30 bis 50 Jahren in entscheidendem Maße beeinflussen und gestalten. Mit Neourbanisierung möchten wir darauf hinweisen, dass Städten (aber auch regionalen Netzwerken) in den nächsten Jahren die Aufgabe zufällt, einen neuen internationalen Lebensentwurf zu entwickeln. Neourbanisierung ist dabei Vision und Konzept zugleich. Mit der zukunftsfähigen Stadt verbinden wir die Idee, wie Leben in der digitalen Gesellschaft neu organisiert werden kann. Konkret ist der Prozess der Neourbanisierung, gerade aufgrund der Dynamik des Megatrends Digitalisierung, bereits heute schon an einer Vielzahl von urbanen Innovationen ablesbar.
Die selbstgenügsame Stadt der Zukunft
Um nur einige ermutigende Indikatoren aufzuzählen, die sich unmittelbar an den nächsten Innovationssprung in unseren Städten knüpfen:
- Dezentrale Versorgung: Städte werden sich wieder stärker selbst mit Lebensmitteln versorgen und damit unabhängiger vom ländlichen Raum und globalen Logistikketten agieren. Wie das Fraunhofer Institut herausgefunden hat, lassen sich künftig auf 3,6 Quadratmetern mit modernen Anbaumethoden (Urban Farming, Vertical Farming, Aquaponik etc.) genügend Lebensmittel für einen Stadtbewohner anbauen. Dafür könnten die freigewordenen Parkplätze in den von PKW-Verkehr „befreiten“ Innenstädten genutzt werden, aber auch ungenutzte Dachflächen. In der Innenstadt von Stuttgart beispielsweise könnten laut Fraunhofer allein auf freiwerdenden Parkflächen Lebensmittel für 30.000 bis 50.000 Menschen hergestellt werden.
- Stadt bringt Wohlstand: Edward Glaeser, Professor für Wirtschaftswissenschaften in Harvard, hat in seinem Bestseller „Triumph of the City“ auf das Erfolgsmodell Stadt hingewiesen: „Es gibt keine armen urbanen Länder, genauso wenig, wie es reiche Länder gibt, die von Landwirtschaft geprägt sind, so Glaeser. Damit habe sich sogar Mahatma Gandhi geirrt, der davon ausging, dass Indiens Zukunft in seinen Dörfern und nicht in den Städten wie Bangalore liege.
- Stadt ist nachhaltig: Dass selbst die Umweltbilanz eines Stadtbewohners besser ausfällt, hat David Owen in „Green Metropolis“ herausgearbeitet, einem Buch über die ökologischen Vorteile der Stadt. Ihre Straßen, Abwasserkanäle und Energieleitungen sind kürzer und verbrauchen daher weniger Ressourcen. Städtische Wohnungen verbrauchen weniger Energie zum Heizen, Kühlen und Beleuchten als Einzelhäuser. Am wichtigsten aber: Stadtbewohner fahren weniger Auto. Die Ziele der Stadtbewohner liegen in Laufweite, und die Masse an Fahrgästen macht den öffentlichen Nahverkehr profitabel. In Städten wie New York, so Owen, liegen CO2-Ausstoß und Energieverbrauch pro Kopf erheblich unter dem Landesdurchschnitt.
Zukunftsfähige Städte machen die Digitalisierung zum menschenfreundlichen Projekt
Zukünftige Lösungen für die Strukturprobleme der digitalen Gesellschaft liegen also vor allem in der Neugestaltung unserer Städte. Wir haben auf diesen Zusammenhang in den vergangenen Jahren häufig hingewiesen. Jetzt hat sich auch Evgenij Morozov, das Mastermind des digitalen Wandels aus den USA, auf diese These eingeschwungen. In einem Text für die „Süddeutsche Zeitung“ stellt er einen direkten Zusammenhang zwischen einer transparenteren und demokratisierten Datennutzung und dem Profil der Städte in den nächsten Jahren her.
Auch Barcelona musste zunächst scheitern
Wie das genau funktioniert, hat er uns allerdings nicht verraten. Dabei gibt es längst interessante Beispiele europäischer Städte, die zeigen, dass die Zukunft bereits begonnen hat. Allen voran Barcelona und Amsterdam. Beide Metropolen setzen bereits Pläne um, die man als Soziotech-Innovationen bezeichnen könnte. Digitale Technologien spielen offensichtlich eine entscheidende Rolle – jedoch hat insbesondere Barcelona rechtzeitig erkannt, dass hinter der „Smart-City-Idee“ häufig nur präpotente Wunschträume einer durch neue Technologien erlösten Stadt stecken. Smart City ist ein Schlagwort und kein besonders klug gewähltes.
Und auch Barcelona ist in den vergangenen Jahren auf den Zug aufgesprungen – und gescheitert. LED-Straßenlampen, die sich nur bei Bedarf einschalten – sehr schön, tatsächlich wurden sie aber exzessiv zur Beleuchtung der in Barcelona so heiß und innig geliebten Events genutzt, der Stromverbrauch stieg an. Sensoren, die den Autofahrern freie Parklücken anzeigen – sehr interessant, aber wenn Straßenbahnen in der Nähe anhielten, kam es zu Interferenzen, worauf die Sensoren immer „belegt“ meldeten. Doch Barcelona lernte aus Smart City 1.0: Internet der Dinge und Sensorik klingt alles schön und gut, doch da die Parklücken in der katalonischen Metropole ohnehin durchschnittlich nur 30 Sekunden vakant sind (so ergaben Untersuchungen 1.0 mit Stoppuhr und Computer), macht es keinen Sinn, noch mehr Geld mit der sogenannten digitalen Parkraumnutzung zu verbrennen.
„Reverse the paradigm“: Technologie als soziales Werkzeug
Das und andere Havarien mit dem Internet der Dinge hat die Stadtplaner dazu bewogen, den Prozess radikal umzudrehen: statt neue Technologien top down zu installieren, begann man sich fragen, was die Menschen in Barcelona wirklich brauchen und wie sich mehr Partizipation in der Stadt mithilfe von neuen Technologien erreichen ließe. Dafür engagierte die Stadt mit Francesca Bria eine Innovationsexpertin, die bereits in London für die Innovationsschmiede Nesta arbeitete und das EU-Projekt D-CENT bei der Entwicklung von Datenschutzkonzepten und SozioTech unterstützte. Brias Ansatz ist ebenso simpel wie bahnbrechend: Power to the people! In enger Zusammenarbeit mit Barcelonas Oberbürgermeisterin Ada Colau von der basisdemokratischen Plattform „Barcelona en Comú“ begann die Italienerin, die Smart-City-Idee auf komplett neue Füße zu stellen.
Die Arbeit mit einem Technologiegiganten wie Cisco wurde dabei nicht beendet, aber gründlich neu definiert. Ziel: Die Stadt braucht eine Plattform, ein digitales Netzwerk, das es möglichst vielen Nutzern erlaubt zu kommunizieren und frei auf Daten zugreifen zu können. Mit anderen Worten, was primär im Vordergrund stand, war ein Open-Source-Barcelona-Netzwerk, das möglichst viele Schnittstellen erzeugt, aber die Datenhoheit in den Händen der Stadt, seinen Bürgern und den örtlichen Unternehmen belässt. Auch das war kein bewusster Affront gegen GAFA (Google, Amazon, Facebook, Apple), sondern einfach der Einsicht geschuldet, dass der Besitz an Daten und die produktive Erzeugung und Nutzung von Daten einer Stadt ihre Zukunftsfähigkeit über neue Wertschöpfungskanäle und Partizipationswege hinweg sichert.
Digitalisierung ist vor allem ein Hebel für mehr Teilhabe
Und eine Stadt wird dann erst wirklich smart, wenn sie ihre Bürger smart macht. Barcelona hat eine große Tradition in der Entwicklung von Partizipationsprojekten. Unter anderem werden Eltern aktiv in die Grundschulbildung ihrer Kinder eingebunden (nicht nur als nölende Elternabendeltern, sondern als Mitverantwortliche für den Unterrichtsplan). Es gibt die Kultur der Nachbarschaftskonferenzen, in denen aktive Stadtteilarbeit betrieben wird. Und diese Initiativen werden ab sofort durch digitale Werkzeuge noch vereinfacht und intensiviert. Eines der ersten Ergebnisse: Leerstehende Wohnungen werden über einen digitalen Immobilienstadtplan angezeigt, verdeckter Leerstand ist nicht mehr möglich. Preise für Wohnungen und Gewerbeimmobilien lassen sich dadurch niedrig halten.
Barcelona hat, um eine möglichst zugängliche Digitalplattform vorhalten zu können, bereits 2012 eigene Software entwickelt. Unter anderem Sentilo („sensor in esperanto“), eine Open-Source-Plattform, die im Handumdrehen auch von anderen Städten und Regionen adaptiert werden kann. Sensoren unterschiedlicher Herkunft können via Sentilo eingebunden werden, ohne dass gleich die ganze IT des Anbieters zugekauft werden muss.
Die Blockchain als Schlüsseltechnologie für Datensouveränität
Und während vielerorts über die Blockchain nur nebulös geredet wird, hat Barcelona sie bereits beim Carsharing am Start. Noch in diesem Jahr beginnen in der Stadt (wie auch in Amsterdam) Pilotprojekte, bei denen die Blockchain es gestattet, dass Bürger entscheiden können, ob und an welche Dienstleister sie ihre Nutzerdaten weitergeben. Dagegen nutzen Mobilitätsdienstleister wie Uber oder Lyft ihre Daten ausschließlich zu eigenen Zwecken. In einigen Städten (Boston, Manila, Sydney, Washington) hat Uber jüngst jedoch begonnen, seine Daten teilweise zur Verfügung zu stellen. Die Blockchain könnte in den nächsten Jahren dasjenige digitale Asset sein, dass darüber entscheidet, ob „power tot he people“ tatsächlich Realität wird.
Datentransparenz, Recht an individueller Datennutzung und die Verbesserung der Partizipationsmöglichkeiten durch ein dezentrales System wie die Blockchain könnten folglich auch ein entscheidender Hebel dafür sein, bei der globalen Krise der Demokratie gegenzusteuern. Städte, das zeigt das Beispiel Barcelona, sind die „sozialen Gefäße“, die es braucht, um einem solchen Wandel in Gang zu bringen.
Über den Autor
Eike Wenzel gilt als einer der renommiertesten deutschen Trend- und Zukunftsforscher und hat sich als erster deutscher Wissenschaftler mit den LOHAS (Lifestyles of Health and Sustainability) beschäftigt. Eike Wenzel ist Gründer und Leiter des Instituts für Trend- und Zukunftsforschung. Er gibt den Newsletter Megatrends! heraus und ist Mitglied des Nachhaltigkeitsrats der Landesregierung Baden-Württemberg. Mehr zu Eike Wenzel